Alle fünf Jahre Revolution

Es brummt in fast jeder Tasche. Die Smartphone-Verbreitung in Deutschland nähert sich der 70-Prozent-Marke. Auch Handy-Verächter haben inzwischen fast alle aufgegeben und fast niemand ist ohne ein zumindest einfaches Gerät unterwegs. Kaum ein Tischgespräch verläuft mehr, ohne dass ein Handy oder Smartphone nach Aufmerksamkeit verlangt – oder diese sogar ganz ohne Anrufsignale erhält. Dabei erschien das Ur-Handy erst 1983 auf dem Markt. Der Anbieter war Motorola und der Preis lag bei 4.000 Dollar. Es ging ums Telefonieren, nicht mehr. 1995 brachte Siemens ein Gerät in den Verkauf, das SMS senden und empfangen konnte. Fünf Jahre später, im Jahr 2000, konnten Interessierte – und Wohlhabende – dann das erste Handy mit integrierter Kamera erwerben – und sicher haben sich viele gefragt, was das denn solle. 2007 schließlich erblickte das erste iPhone das Licht der Welt. Dies war auch die Phase, in der Handys Handys blieben und Smartphones mit Internetzugang und größeren Bildschirmen begannen, die Taschen zu füllen. Ganz unbestritten haben die Geräte ein Bedürfnis getroffen, dass uns allen innewohnt: die Kommunikation mit unseren Mitmenschen. Sei es im Telefongespräch, in Textbotschaften oder per Bild und Foto. Mitunter nimmt der elektronische Begleiter dabei so viel Zeit in Anspruch, dass der direkte Kontakt mit einem physischen Gegenüber darunter leidet oder sich unser Alltagsleben in anderer Weise verändert. Zum Guten wie vielleicht auch zum Schlechten. Genauer wissen wollte dies Alexander Markowetz. Er entwickelte die Menthal-App, mit der interessierte SmartphoneNutzer ihrem Umgang mit diesem Begleiter auf die Spur kommen können. Wir haben mit ihm gesprochen.

Herr Markowetz, Sie haben mit der Smartphone-App Menthal Bekanntheit erlangt, die es Nutzern ermöglicht, ihren Umgang mit dem Smartphone zu messen und eine mögliche Sucht aufzudecken. Wie viele Nutzer hat die App gerade?

Aktuell fast 400.000 Nutzer, stagnierend. Wir vermarkten die App aber auch nicht aktiv, sie ist kein Lebenswerk. Sie wird weiterhin angeboten, was wir weiter damit machen, muss man sehen.

Sie haben auch für Ihr Buch „Digitaler Burnout“ die aggregierten Daten der App ausgewertet. Was kann man auf Basis der bisherigen Auswertungen feststellen?

Alexander Markowetz
Alexander Markowetz

Vorab muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Auswertungen nicht repräsentativ sind. Es gibt einen Bias, weil Menthal vermutlich nur jene installieren, die sich für potenziell smartphonesüchtig halten. Meine Mutter, die einmal am Tag eine SMS schreibt, wird sie sich sicher nicht herunterladen. Trotzdem kann man klare Unterschiede identifizieren, was wir nutzen und wie.

Vermutlich gibt es vor allem altersabhängige Unterschiede?

Teilweise. Die Jugendlichen nutzen viel mehr Messenger und nutzen dadurch das Smartphone länger und hochfrequenter. Was wir aber messen wollten, ist der „Homo Digitalis“. Der Mensch, der seine Bedürfnisse zum größten Teil im digitalen Raum erfüllt. Er hat eine App zum Kommunizieren, zum Kaufen, zum Reisen oder zum Partnerfinden. Diesen Homo Digitalis gibt es in allen Altersklassen, in den höheren halt etwas weniger.

Spannend sind wahrscheinlich die Digital Natives, die Smartphones von klein auf gewohnt sind. Sie zeigen vermutlich die Zukunft auf?

Nicht unbedingt. Das Verhalten der heute 20-Jährigen wird in zehn Jahren anders sein als das der heute 30-Jährigen. Aber es wird auch anders sein als ihr Verhalten heute. Denn diese Generation ist in der Pubertät, mit entsprechendem Balzverhalten und Mitzwitschern müssen. Das legt sich. Es ist aber eine falsche Annahme, dass sie mit ihren Skills, eben mit dem Smartphone aufgewachsen zu sein, bis zum Ende ihres Lebens gut fahren werden. Im Digitalen gibt es alle fünf Jahre Innovationszyklen. Der heute zehnjährige Digital Native wird bis in 60 Jahren also x weitere Revolutionen erleben und sich damit wesentlich schwerer tun als meine Mutter mit 70 heute.

Wenn die Perspektive der Digital Natives also noch unklar ist, wen haben Sie bei Ihren Untersuchungen denn dann im Fokus gehabt?

Wir haben sie Generation Online genannt. Das sind diejenigen, die sich fragen müssen: Gibt es eigentlich eine Welt ohne Smartphone? Bei denen sich Ängste aufbauen, wenn das Handy weg ist. In solchen Fällen macht man eigentlich eine Expositionstherapie: Vier Stunden offline und die Welt dreht sich immer noch und die Freunde haben einen immer noch lieb. So eine Expositionstherapie hatten wir früher immer. Nämlich wenn wir das Haus verlassen haben. Denn dann war Schluss mit Internet, denn es war ans Kabel gebunden. Diese Erfahrung fehlt der Generation Online. Darin unterscheiden sie sich von anderen.

Das hört sich schlimm an.

Ich will das nicht werten, aber es stimmt schon: In dem Moment, in dem jemand seine Selbstbestimmtheit verliert, weil er Zwängen unterliegt, ist das nicht mehr egal. Und die Generation Online kann ihr Smartphone-Verhalten nicht mehr selbst bestimmen, weil es entweder unterbewusst abläuft oder sie die Alternative dazu nicht kennen.

Und wo findet sich diese Generation Online?

In der Summe in allen Altersklassen. Der frühere Mediendiskurs bezog sich immer auf die nachfolgenden Generationen. Hier sind aber alle betroffen. Die Wissenschaftler wollen plötzlich über sich selber reden: „Ich mache da was, das macht mich nicht glücklich, produktiv oder stolz, ich kann es aber trotzdem nicht lassen. Warum?“ Im Grunde waren der Launch der App und das enorme mediale Echo eine Antwort auf die Frage: Hat Deutschland ein Problem mit seiner Smartphone-Nutzung? Denn das hätte ja auch alles völlig im Verborgenen stattfinden können, allenfalls auf der Wissenschaftsseite der Regionalpresse erwähnt.

Die mediale Aufmerksamkeit erinnert ein bisschen an die Diskussionen um das Fernsehen Anfang der 70er Jahre.

Auch damals war Sucht ein Thema. Das Fernsehen war nicht harmlos. Die Analogie zu heute liegt aber eher beim Essen. Wir sind evolutionsbiologisch für eine Welt ausgelegt, in der sowohl Essen als auch Kommunikation limitiert waren. Ich warte auf die erfolgreiche Jagd. Ich quatsche auch nicht ungefragt die Öffentlichkeit voll. Auch Fernsehen war limitiert. Bei der einfachen Strategie „Nimm alles, was da kommt“ war immer noch genug Raum für anderes. Jetzt, mit dem Smartphone, gibt es erstmals ein Medium, das unendlich verfügbar ist. Es gibt keine Grenzkosten und unendlichen Content. Und der ist noch nicht mal schlecht. Pro Tag könnte ich mehrere hundert Stunden guten Content konsumieren. Da brauche ich eine Strategie, die hochselektiv ist.

Und die wäre?

Hier greift wieder die Analogie zum Essen. In den USA sieht man es deutlich: 10 Prozent der Bevölkerung machen nichts anderes, als ständig die eigene Ernährung zu optimieren. 40 Prozent sind hingegen verloren, die fressen einfach ohne Limit. Fried-Butter-Irgendwas, egal. So ähnlich ist es bei der Smartphone-Nutzung: Es gibt absolute Eliten, die extrem auf eine begrenzte Nutzung achten. Dann gibt es Menschen wie mich, die ganz gut durchkommen, und dann 40 Prozent, die unreflektiert und unbegrenzt alles konsumieren, was online angeboten wird. Eigentlich würde man sich mehr aufgeklärtes Handeln wünschen.

Wird das kommen?

Ja, soziale Differenzierung wird helfen. Ein Smartphone hat als Statussymbol längst ausgedient, das hat heute jeder 13-Jährige. Genauso wie ein dickes Auto in Berlin nicht mehr zieht. Aber das Fixie-Fahrrad oder das Veganertum sind Statements. Auch das eigene Kommunikations- und Medienverhalten wird dazu genutzt werden, sozialen Status auszudrücken. Bereits jetzt kommunizieren Erste über ihre digitale Diät. Man kann das im fallenden Printmedienmarkt bereits sehen. Titel, die gegen den Trend funktionieren, sind beispielsweise Landlust, Flow oder Beef. Da steht zwar nicht „Digital Detox“ auf dem Titel, ist aber drin. In diesen Magazinen geht es ausschließlich um Dinge, bei denen man kein Handy nutzen kann, weil man beide Hände braucht.

Zeit für Analoges verdrängt also die Smartphone-Nutzung?

Ja. Letztlich gibt es einen Markt um die Ressource Aufmerksamkeit, der erst durch die Smartphones entfesselt wurde. Er ist vergleichbar mit dem Immobilienmarkt: Eine fixe Größe, denn das Land wird nicht größer und die potenziellen 16 Stunden Aufmerksamkeit pro Tag bleiben auch. Wenn ich im Immobilienmarkt nicht plane, zerfasert er, sodass ich kein großes Gebäude mehr bauen kann. Auch meine Aufmerksamkeit muss ich planen und entzerren, weil sonst die kleinen Unterbrechungen durch den Blick auf das Smartphone den Tag zerfasern. Sie nehmen zwar gar nicht so viel Zeit in Anspruch, sorgen aber dafür, dass man es nicht schafft, auch nur eine größere Sinneinheit hineinzupacken.

Nun war Aufmerksamkeit immer schon ein hehres Gut und musste eingeteilt werden. Was hat sich verschärft?

Es ist die crossmediale Dimension: Wer einen Buchverlag fragt: „Wer ist eure Konkurrenz?“, der wird als Antwort erhalten: „Der andere Buchverlag.“ In Wahrheit ist es aber Candycrush-Saga (Anm. d. Red.: Smartphone-Spiel). Die 16 Stunden verbringt man entweder mit Buchlesen oder mit Handyspielen. Wirklich alle Player prügeln sich um diese 16 Stunden Aufmerksamkeit. Die digitalen Content-Anbieter haben aber die Möglichkeit, dem Nutzer gezielt ein Verhalten anzutrainieren, um immer wieder seine Aufmerksamkeit zu erhalten. Denn sie können sein Verhalten ständig messen und damit ihr Angebot stetig optimieren. Das nennt sich dann Growth-Hacking oder A/B-Testing. Das heißt, sie nehmen Menschen auf unterbewusste Weise gefangen. Ich denke, dass wir kurz davor stehen, dass es eine Gegenbewegung dazu geben wird.

Welchen Part wird eigentlich die Wissenschaft bei dieser Entwicklung einnehmen?

Wie bei der Ernährung wird es nicht die Wissenschaft sein, die vorweggeht. Beim Digitalen Detox und der Kommunikationsetikette wird es eher ein „Trial and Error“ geben: Wie fange ich mein eigenes Verhalten ein und wie gehen wir miteinander um? In beiden Gebieten sind wir eigentlich noch bei null. Die Smartphone-Nutzer werden verschiedenste Dinge ausprobieren, von denen 99 Prozent Schrott sein werden und einer mit einer entscheidenden Idee kommt.

Welche Entwicklungen sehen Sie in diesem Zusammenhang für die Zukunft?

Wir werden von den Smartphone-Herstellern Mechanismen verlangen, die uns schützen. Ähnlich wie bei Autos, wo man irgendwann in den 60ern angefangen hat, über Sicherheit nachzudenken. Ich zahle nicht 750 Euro für ein Smartphone, nur damit ich mich kirre machen lasse, weil ich vor lauter Unterbrechungen nicht mehr die Zeit finde, mich um meine Tochter zu kümmern. Zurzeit kann ich mein Handy nur ein- und ausschalten. Wenn es aus ist, merke ich nicht, wenn die Schule anruft, weil mein Kind angefahren wurde. Wenn es an ist, piepst es im Sekundentakt wegen irgendwelcher Messenger-Nachrichten. Gewollt ist doch vielmehr: Dringende Dinge kommen immer durch. Im Grunde wie früher im Vorzimmer eines Direktorenbüros. Der Drache dort hat dringende Sachen sofort zum Chef durchgelassen, weniger wichtige Dinge einmal pro Tag gesammelt reingereicht und unwichtige weggeworfen.

Das hört sich gut, aber auch ein bisschen utopisch an.

Das wird kommen. Auch, weil die Hersteller schon jetzt händeringend nach neuen Features suchen, mit denen sie den Absatz aufrechterhalten können. Die Smartphone-Verkäufe gehen aktuell zurück, wie die jüngsten Apple-Ergebnisse ja gezeigt haben. Da sind neue Verkaufsargumente sehr willkommen.

Herr Markowetz, vielen Dank für das Gespräch!