Neue Mittelklasse? Ein empirischer Beitrag zur Reckwitz-Debatte

Ein Beitrag von Dr. Hans Dietrich, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), und Doris Hess, infas

Mit seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ hat Andreas  Reckwitz 2017 die Debatte um die Klassenlage in Deutschland um eine  weitere Facette erweitert, „die neue Mittelklasse“. Eine daraufhin  einsetzende Debatte hat zu Beginn dieses Jahres mit einer Serie von Kurzbeiträgen in der Berliner Zeitschrift für Soziologie, Leviathan, weiter  an Fahrt aufgenommen.

Es ist hier nicht der Ort, den Reckwitz’schen Klassenbegriff in der bereits  umfangreichen Sammlung theoretischer Ansätze zur Frage der vertikalen  Stratifizierung angemessen einzuordnen, zumal Reckwitz seine neue Klassenlage begrifflich selbst nicht stringent und eindeutig formuliert hat. Wesentlich ist jedoch, dass Reckwitz einen prononcierten Ansatz und  zugleich eine anspruchsvolle Definition von Klasse vorgelegt hat und dabei  versucht, seinen Klassenbegriff von Schicht als vermeintlich  sozialstatistischer Größe abzugrenzen. Sein Klassenbegriff bezieht sich auf  soziale Gruppen, die sowohl kulturelle Muster gemeinsamer Lebensführung  als auch vergleichbare und gemeinsame soziale Positionen  innehaben, die mit vergleichbaren sozial relevanten Ressourcen (Kapital)  sowie mit bestimmten Formen der Arbeit verbunden sind (siehe Reckwitz  2017:247, FN2).

Reckwitz hat eine anspruchsvolle Definition von  Klasse vorgelegt und dabei versucht, seinen  Klassenbegriff von Schicht als vermeintlich  sozialstatistischer Größe abzugrenzen.

Die vorliegende kurze Ausführung folgt einer dezidiert empirischen  Perspektive und analysiert die theoretisch formulierte Abgrenzung einer  neuen Mittelklasse (nachfolgend neue Mittelschicht genannt) von der  traditionellen Mittelschicht aus einer mehrdimensionalen Status- Perspektive. Dabei werden insbesondere drei Perspektiven aufgegriffen: die  sozioökonomische Lage auf Basis allgemeiner empirischer Lagemaße und  deren subjektive Bewertung auf Basis einer Selbstverortung der befragten Individuen, eine persönlichkeitsspezifische Perspektive sowie eine  soziokulturelle Betrachtung zentraler gesellschaftlicher Werte, sofern sie  auf Basis des gewählten Datensatzes verfügbar sind.

Datengrundlage und empirische Konstrukte

Als Grundlage werden die Daten der infas-Mehrthemenbefragung herangezogen. Mit dieser sozialwissenschaftlich ausgerichteten  Omnibusbefragung wird monatlich auf Basis einer Zufallsstichprobe ein  repräsentatives Sample der bundesdeutschen Wohnbevölkerung zu  aktuellen gesellschaftlichen Themen befragt, wobei ein Kernmodell an  Fragen jeden Monat zum Einsatz kommt. Für die Analysen in diesem  Beitrag werden die Daten von 29 Monatssamples mit insgesamt 13.204  befragten Individuen verwendet. In Anlehnung an Reckwitz (2017) wird auf  Basis der Angaben zur Stellung im Beruf ein Schichtungsmodell gebildet,  das im Wesentlichen auf die etablierte Abgrenzung von Unterschicht,  Mittelschicht und Oberschicht zurückgreift. Die Selbstständigen werden  zusammen mit den mithelfenden Familienangehörigen als eigenständige  Schichtungsgruppe definiert. Das Schichtungsmodell auf Basis der  Berufsposition Erwerbstätiger korreliert in den Daten sehr gut mit einer  Schichtungseinteilung, die auf Basis einer eindimensionalen Abfrage der  Statusposition (oben unten) gewonnen wurde und legt somit nahe, dass die  subjektive und die objektive Verortung der Befragten im bundesdeutschen  Statusgefüge weitgehend vergleichbare Verteilungsmuster aufweisen, auch  wenn auf der Individualebene im Einzelfall deutliche Abweichungen  auftreten können.

Nachfolgend wird auf die objektive Statuslage basierend auf der  Selbstangabe zur Stellung im Beruf zurückgegriffen und diese entsprechend  Reckwitz (2017: 273ff) um eine neue Mittelschicht ergänzt.  Ihm folgend rekrutiert sich die neue Mittelschicht aus Angehörigen der  bisherigen Mittelschicht, die in den Berufen der „creative industries”  (Reckwitz 2017:275) tätig sind. Da der verfügbare Datensatz keine  Einzelberufe ausweist, erfolgt die Abgrenzung über die Branche der Beschäftigung (die in einer 14er-Klassifikation erhoben wird). Darauf  aufbauend werden abhängig und selbstständig Erwerbstätige in den  „creative industries“ mit den Branchen „Information und  Kommunikation“ (z.B. Telekommunikation, Dienstleistungen der Informationstechnologie, Medien und Verlagswesen, Werbung) sowie  „Kunst, Kultur, Unterhaltung“ (z. B. Theater, Museen, schriftstellerische  Tätigkeiten) erfasst. Wie aus der Abbildung oben ersichtlich wird, nehmen die Erwerbstätigen der neuen Mittelschicht einen Anteil von 8 Prozent ein,  während in Abgrenzung dazu die traditionelle Mittelschicht 60 Prozent der  Erwerbstätigen umfasst. 9 Prozent der Erwerbstätigen sind als sonstige  Selbstständige aktiv, 15 Prozent werden auf Basis der Angaben zur Stellung   im Beruf der Unterschicht zugeordnet und 8 Prozent der Oberschicht.

Mit Blick auf soziodemografische Merkmale unterscheidet sich die neue  Mittelschicht nur begrenzt von der alten Mittelschicht (siehe Tabelle  rechts). Die neue Mittelschicht weist in etwa vergleichbare Altersmuster auf  und lebt in vergleichbar großen Haushalten. Gleichwohl weist die neue  Mittelschicht mit 37 Prozent einen beachtlich höheren Singleanteil auf als  die traditionelle Mittelschicht (28 Prozent); der Akademikeranteil ist in der  neuen Mittelschicht mit 59 Prozent ebenfalls um deutliche 15  Prozentpunkte höher als in der traditionellen Mittelschicht (44 Prozent).  Schließlich ist der Männeranteil mit 61 Prozent höher als in der  traditionellen Mittelschicht. Der Anteil von Personen mit  Migrationshintergrund liegt in der neuen Mittelschicht leicht über dem der  traditionellen Mittelschicht.

In einem zweiten Schritt wird nun auf Basis  multivariater Regressionsmodelle der Zusammenhang von zentralen  Merkmalen der sozioökonomischen Situation der Erwerbstätigen mit deren  sozialer Position analysiert (siehe Tabelle auf Seite 12). Dabei kommt ein  umfangreicher Satz an Kontrollmerkmalen zum Einsatz (Alter, Geschlecht,  Migrationshintergrund, Bildung, Familienstand, Haushaltsgröße und  Bundesland). Die traditionelle und die neue Mittelschicht werden  entsprechend sozioökonomischer, persönlichkeitsspezifischer und  soziokultureller Merkmale auf Homogenität innerhalb der sozialen Gruppe  und Unterscheidbarkeit (Distinktion) von anderen Statusgruppen geprüft.

Mit Blick auf ausgewählte sozioökonomische Charakteristika ergeben sich  keine signifikanten Unterschiede zwischen der traditionellen und der neuen  Mittelschicht. Dies gilt für objektive Merkmale wie das monatliche  Nettoeinkommen, das multi-dimensionale Konstrukt der Lebenslage (Ilex;  siehe Steinwede 2013) oder in Bezug auf wahrgenommene Beschränkungen  im Konsumverhalten. Keine Unterschiede lassen sich auch für die subjektive  Verortung in der vertikalen Statuslage (oben-unten), die  Wahrnehmung der eigenen sozialen Teilhabe bzw. des Exklusionsrisikos  oder für die subjektiv empfundene Einkommenshöhe feststellen. Während  sich Ober- und Unterschicht bei diesen Kennziffern klar in den jeweiligen  Extremen verorten und damit implizit auch die Messung bestätigen,  ergeben sich insbesondere zwischen der traditionellen und der neuen  Mittelschicht mit Blick auf sozioökonomische Kriterien keine signifikanten  Unterschiede.

Bemerkenswert sind aber Unterschiede in  Persönlichkeitsmerkmalen, hier die Risikobereitschaft. Die neue  Mittelschicht gibt sich deutlich risikobereiter als die traditionelle  Mittelschicht, aber auch als die Unterschicht. Die neue Mittelschicht grenzt  sich jedoch auch signifikant von der Oberschicht ab und wird mit Blick auf  die individuelle Risikobereitschaft von dieser nochmals deutlich übertroffen!

Nach der sozioökonomischen Lage sowie den   Persönlichkeitsmustern wird in einem dritten Schritt die soziokulturelle  Lage der Befragten betrachtet. Hierbei werden vier Dimensionen in die  Analyse einbezogen: die Bewertung des eigenen Lebensstandards, die  Verortung im politischen Links-Rechts-Schema, Zukunftsoptimismus  sowie die Selbstverortung auf der Inglehart-Skala (Inglehart & Norris  2016), die die individuellen Wertemuster in einem kulturellen Kontinuum  zwischen kosmopolitischem Liberalismus auf der einen Seite und  Rechtspopulismus auf der anderen Seite identifiziert. Inglehart und Norris  (2016) sehen ihre Populismus-Skala theoretisch orthogonal zum Links-Rechts-Schema.

Die neue Mittelschicht gibt sich deutlich risikobereiter
als die traditionelle Mittelschicht,
aber auch als die Unterschicht. Von der Oberschicht
wird sie nochmals deutlich übertroffen.

Die neue Mittelschicht ordnet sich auf der Inglehart-Skala im Vergleich zu  anderen Statusgruppen dezidiert dem kosmopolitischen Liberalismus zu,  gefolgt von der Oberschicht. Die Selbstständigen und die traditionelle  Mittelschicht unterscheiden sich kaum und die Unterschicht erweist sich  weniger dem kosmopolitischen Liberalismus zugeneigt, befindet sich  jedoch ebenso noch links von der theoretischen Mitte der Verteilung. Im  politischen Links-Rechts-Schema verorten sich Befragte aus der  Unterschicht, aus der traditionellen Mittelschicht sowie der Oberschicht  mehrheitlich leicht links vom theoretischen Skalenmittelwert, während die  Selbstständigen sich davon signifikant abgrenzen und am Mittelpunkt der  theoretischen Verteilung ansiedeln. Die neue Mittelschicht unterscheidet  sich dabei auch mit Blick auf das Links-Rechts-Schema nicht substanziell  von anderen Erwerbsgruppen.

Deutliche sozialstrukturelle Unterschiede ergeben sich bei der subjektiven  Bewertung der eigenen sozioökonomischen Lage: Die neue Mittelschicht  berichtet eine geringere Zufriedenheit mit dem eigenen Lebensstandard  trotz zur traditionellen Mittelschicht vergleichbarer materieller Lagen.  Ferner wird die eigene wirtschaftliche Lage von der neuen Mittelschicht bei  vergleichbarer sozioökonomischer Lage und unter Kontrolle der Covid-19-Pandemie als weniger günstig bewertet als von der traditionellen  Mittelschicht.

Zusammenfassend lässt sich zeigen, dass sich die neue Mittelschicht  hinsichtlich der sozioökonomischen Lage nicht substanziell von der  traditionellen Mittelschicht unterscheidet, jedoch deutlich bei  Persönlichkeitsmustern wie der Risikobereitschaft. Deutliche Unterschiede  ergeben sich ferner bei der soziokulturellen Abgrenzung von traditioneller  und neuer Mittelschicht.

Mit Blick auf die selbst gestellten Anforderungen an ein Klassenmodell, das  die neue Mittelschicht sowohl hinsichtlich der sozioökonomischen  Situation, kurz der materiellen Lage, als auch hinsichtlich der  soziokulturellen Muster (hier zum Beispiel Unterschiede in Werten und  Normen) als eigenständige Klassenlage postuliert, kann auf Basis der hier  zur Verfügung stehenden Daten somit keine klare Klassenlage identifiziert  werden. Weitergehende Analysen auch mit anderen Datengrundlagen  erscheinen erforderlich, um diese Befunde weiter abzusichern.

Als beachtlich haben sich persönlichkeitsspezifische Unterschiede  erwiesen, die auf Muster der (Selbst-) Selektion in zunächst distinkte  berufliche Felder verweisen könnten und somit eine gruppengenerierende Relevanz nahelegen. Dieser Befund könnte auch zum Anlass genommen werden, zu prüfen, inwieweit intragenerationale Muster der Berufswahl  und schichtspezifische Muster des Erwerbs- bzw. Lebensverlaufs diese  neue Statusgruppe widerspiegeln. Ferner könnte gerade auch mit Blick auf  den internationalen Forschungsstand der Frage Bedeutung zukommen,  inwieweit mit der Ausprägung neuer Statusgruppen Prozesse der  intergenerationalen Weitergabe von Statuspositionen und damit Ansätze  einer sozialstrukturellen Verfestigung zu beobachten sind. Gerade aus  letzterer Perspektive käme der spezifischen sozioökonomischen Lage eine wesentliche Deutung für die Reproduktion sozialer Positionen und Gruppen  zu. Dieser Aspekt, so zeigt die vorliegende erste Analyse, erweist sich als  wesentlicher Schwachpunkt des hier konstatierten Klassen- oder vielleicht  doch besser Schichtungsmodells (siehe hierzu die noch immer aktuelle  Analyse von Walter Garrison Runciman 2018).

Dieser Beitrag ist erstmalig in Lagemaß erschienen (zum Magazin)

Zum Weiterlesen:
Hoffmeyer-Zlotnik, J. H. (2003): „ Stellung im Beruf” als Ersatz für eine Berufsklassifikation zur Ermittlung von sozialem Prestige. Zuma Nachrichten, 27(53),  114-127.
Inglehart, R. F. und Norris, P. (2016): Trump, Brexit,and the Rise of Populism: Economic Have-Nots and Cultural Backlash. Harvard Kennedy School, Faculty Research Working Paper Series, RWP16-026
Steinwede, J. (2013): ilex, der neue infas-Lebenslagenindex. In: Lagemaß 01, S.4, infas
Kumkar, N., Schimank, U. (2021): Drei-Klassen-Gesellschaft? Bruch? Konfrontation? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz’Diagnose der Spätmoderne.  Leviathan, 49(1), 7-32
Reckwitz, A. (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Suhrkamp Verlag, Berlin
Runciman, W. G. (2018): Towards a theory of social stratification. In The social analysis of class structure (pp. 55-102). Routledge

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