Was macht Menschen zu Extremisten?

Der Begriff Extremismus meint in der Regel, dass die pluralistische Gesellschaftsform und ihre freiheitliche, demokratische Organisation abgelehnt werden. Generell kann man linke und rechte politische Werte und Normen unterscheiden, die zur Bewertung des Extremismus herangezogen werden. Ob es besondere politische Werte und Normen der „Mitte“ gibt, ist umstritten, wird jedoch besonders in Erklärungsversuchen des Populismus wieder herangezogen.1 und 2 Ein Gastbeitrag im infas-Lagemaß von Hans-Dieter Klingemann. Die Extremismusforschung ist durch eine Vielzahl konkurrierender Ansätze gekennzeichnet. Arzheimer und Falter 3 betonen zu Recht, dass sich die meisten international vorliegenden Analysen auf eng abgegrenzte Teilaspekte des Extremismus beschränken, etwa auf Ideologien, politische Einstellungen, die Rolle von Organisationen, politische Traditionen, Wahlsysteme, gesellschaftliche Faktoren oder das unmittelbare soziale Umfeld. Eine umfassende, empirisch fundierte Theorie, die Einflussfaktoren der gesellschaftlichen und politischen Mikro-, Meso- und Makro-Ebenen verbindet, fehlt bisher. Das schränkt die Option ein, fundierte Aussagen zur Zukunft des politischen Extremismus zu treffen.

Normale Pathologie entwickelter Gesellschaften

Als Reaktion auf die Wahlerfolge der NPD in den sechziger Jahren hat sich eine Forschergruppe um Erwin K. Scheuch mit dem Phänomen des Extremismus befasst und einen umfassenden Erklärungsrahmen angeboten.4 Dabei werden die Begriffe „Extremismus“ und „Radikalismus“ synonym gebraucht. Ich greife diesen Erklärungsansatz auf und frage, ob er auch heute zu einem Verständnis der Entstehungsbedingungen und der Entwicklung extremer politischer Bewegungen beitragen kann. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Annahme, dass in allen entwickelten Gesellschaften ein Potenzial für extremistische politische Bewegungen existiert. Extremismus ist demnach eine „normale“ Pathologie. Sie wird durch typische Spannungen in sich rasch wandelnden Gesellschaften hervorgerufen. Das Entstehen extremistischer Bewegungen wird wie folgt skizziert:

  1. Aus den strukturellen Eigenarten moderner Gesellschaften ergeben sich widersprüchliche Anforderungen an die Individuen. Diese Widersprüche manifestieren sich in unterschiedlichen Werten, Normen und Verhaltensweisen, die in den Primärgruppen einerseits und den sekundären Institutionen der Gesellschaft andererseits gelten sollen.
  2. Die Individuen erfahren diese normativen Widersprüche als Probleme des Alltags. So werden etwa Diskrepanzen sichtbar zwischen den Werten und Normen, die in der eigenen Berufssituation gelten sollen, und denen, die für den wissenschaftlichen Fortschritt und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung als wichtig erachtet werden.
  3. Die wahrgenommenen Widersprüche verursachen persönliche Unsicherheit. Eine mögliche Auflösung dieser Unsicherheit ist Rigidität im Denken als eine Form des Ausweichens vor den tatsächlichen Widersprüchlichkeiten. Rigides Denken bevorzugt eine „einfache“ Erklärung komplexer Sachverhalte und bewertet differenzierende Erklärungen oft als „feindlich“. Diese Form der pathologischen Anpassung wurde in der Forschung schon früh als bedeutsam für den Erfolg extremistischer politischer Bewegungen erkannt. Prominente Beispiele dafür sind etwa das Konzept der autoritären Persönlichkeit5 oder das Konzept des geschlossenen Überzeugungssystems6. Im Gegensatz dazu behaupten Scheuch und Klingemann, dass sich Rigidität im Denken nicht automatisch in ein manifest extremistisches politisches Verhalten übersetzt. Für den Erfolg extremistischer politischer Bewegungen müssen vielmehr drei weitere Bedingungen in den Blick genommen werden:

Erstens: Die Verfügbarkeit politischer Philosophien oder extremistischer Erklärungsmuster (auch extremistische Sentiments genannt). Solchen extremistischen politischen Philosophien komme, insbesondere in den frühen Stadien der extremistischen politischen Bewegung, eine entscheidende Übersetzerrolle zu. Extremistische Erklärungsmuster vermitteln zwischen der Inzidenz des rigiden Denkens und dem manifesten politischen Verhalten und liefern den „guten Grund“ für die extremistische politische Position und auch das daraus resultierende Wahlverhalten.

Zur Person:

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Dieter Klingemann, Jahrgang 1937, ist ein Nestor der deutschen und internationalen Politikwissenschaft. Klingemann war unter anderem von 1974 bis 1980 einer der Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA), Mannheim; von 1980 bis 2002 war er als Professor für Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin und zwischen 1989 und 2003 auch als Direktor der Abteilung „Institutionen und sozialer Wandel“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) tätig. 2011 wurde er mit dem Lifetime Achievement Award durch das European Consortium for Political Research (ECPR) ausgezeichnet. Nach langjähriger internationaler Lehr- und Forschungstätigkeit ist Hans-Dieter Klingemann derzeit Präsident der Berlin International University of Applied Sciences.

Zweitens: Der Zustand der Gesellschaft und des politischen Systems. Das betrifft vor allem die politische Agenda des Gemeinwesens, die Art der akuten Probleme und den Grad der darauf bezogenen Polarisierung der Interessen. Die vorgeschlagenen Problemlösungen der Rechtsextremen betonen den Nationalismus. Der geringe Grad der Differenzierung dieser Problemlösungen begünstigt eine Tendenz zum „Entweder-Oder“ und mindert dadurch die Chance der Aushandlung politischer Kompromisse. Drittens: Als letzte Bedingung auf der Makroebene werden die mediatisierenden Wirkungen der politischen Institutionen und die Verfasstheit des Mediensystems berücksichtigt. Hier geht es in erster Linie um die Wirkung des Wahlrechts, die Verfügbarkeit alternativer Ausdruckformen für politischen Protest und das Vorhandensein eines glaubwürdigen, pluralen Systems der Massenmedien. Soweit die Skizze dieses Erklärungsmodells. Sind die damaligen Überlegungen noch plausibel und empirisch tragfähig? Und wenn ja, was folgt daraus für die Entwicklung des politischen Extremismus in Deutschland? Eine umfassende empirische Überprüfung des skizzierten Erklärungsansatzes ist mir nicht bekannt. Arzheimer und Falter, die den Erklärungsansatz mit Mikro-Daten aus dem Jahre 2000 überprüft haben, stellen fest: „Richtung und Stärke der von uns beobachteten Effekte sprechen eindeutig für die Gültigkeit der von Scheuch und Klingemann formulierten Hypothesen über die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Konflikten, dem Persönlichkeitsmerkmal ‚Rigidität‘ und dem Auftreten rechtsextremer Einstellungen.“3 Sie betonen aber auch, dass ihre Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Extremismus auf der Basis dieses Modells den Charakter einer „informierten Spekulation“ trägt. Es wird nicht überraschen, dass ich den skizzierten Erklärungsrahmen für die Entstehung und die Entwicklung politisch extremer Bewegungen auch heute noch für hilfreich halte. Er benennt umfassend die Bestimmungsgründe, die zum Verständnis des politischen Extremismus wichtig sind. Die in den drei Punkten beschriebenen Spannungen und Widersprüche moderner Gesellschaften sind in Deutschland auch heute in hohem Maße zu finden. Die Digitalisierung oder die Folgen der Energiewende haben, um nur diese Beispiele zu nennen, die Werte und Normen, die im Alltag der Bevölkerung gelten, und die Werte und Normen, die für die Wissenschaft und die gesellschaftliche Entwicklung wichtig sind, in ein deutlich sichtbares Spannungsverhältnis gebracht. Die davon Betroffenen werden vor komplexe Probleme gestellt, die nicht einfach zu lösen sind. Und es zeigt sich, dass vermeintlich „einfache“ Lösungen, bei Personen mit rigiden Orientierungssystemen, eher Unterstützung finden. Dies entspricht der These von der „normalen Pathologie“. Es ist anzunehmen, dass sich in Deutschland die Modernisierungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft fortsetzen und dass es auch in Zukunft stets einen Anteil von Personen geben wird, die rigide Orientierungssysteme entwickeln und einfache Lösungen für komplexe Probleme präferieren. Empirische Untersuchungen haben allerdings auch gezeigt, dass die Gruppe der Wähler mit rigiden und ideologisch konsistenten Orientierungssystemen relativ klein ist.7 und 8 Für sich allein betrachtet wäre eine solche Gruppe nur eine unbedeutende politische Sekte. Das eigentliche Potenzial extremistischer politischer Bewegungen bei Wahlen sind jedoch die Menschen, die nicht ganz, sondern nur teilweise in ihren Einstellungen durch die von den extremistischen Bewegungen vorgeschlagenen „einfachen“ Problemlösungen ansprechbar sind. Die Dynamik des Wachstums einer extremistischen Bewegung laufe deshalb wie folgt ab: „[…] eine größere Zahl von Personen besitze in jeweils unterschiedlicher Mischung einen Teil von Einstellungen, die mit den politischen Angeboten der demokratischen Parteien übereinstimmen, und einen anderen Teil von Einstellungen, die partiell durch rechtsradikale Bewegungen repräsentiert werden. Verringert sich – erstens – die subjektive Bedeutsamkeit derjenigen Elemente, die Menschen an demokratische Parteien binden, oder repräsentieren – zweitens – die Parteien diese Elemente nicht mehr in zureichender Intensität, oder ändert sich – drittens – die Relevanz dieser Elemente angesichts von realen Veränderungen in der Politik, dann folgen größere Chancen für rechtsradikale Parteien, die es verstehen, einzelne Elemente in Wahlverhalten für eine rechte Partei umzusetzen. Diese Konzeption hat den Vorteil, eine rasche Veränderung im Wahlverhalten erklären zu können, ohne eine schnelle Veränderung genereller Einstellungen in der Bevölkerung als Voraussetzung zu erfordern.“4 Hier kommen alle Bedingungen für eine Prognose der Entwicklung extremistischer und auch populistischer Bewegungen ins Spiel. Bezogen auf die Bundesrepublik gilt: (a) Die AfD ist gegenwärtig die (quantitativ) wichtigste extremistische Bewegung in Deutschland. Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass sie von der Verfügbarkeit rechtsextremistischer „Philosophien“ oder Erklärungsmuster strategischen Gebrauch macht. Lehmann und Matthieß9 finden im Grundsatzprogramm der Partei einen ausgeprägten Anti-Pluralismus und destruktive Kritik am demokratischen politischen System sowie die Betonung der Bedeutung des Nationalstaats und des Schutzes der nationalen kulturellen Identität vor fremden Einflüssen. Lehmann, Matthieß und Regel10 bestätigen diesen Befund durch eine Analyse der AfD-Wahlprogramme der Bundestagswahlen 2013 und 2017. (b) Die politische Agenda ist durch Problemlagen geprägt, für die „einfache“, nationalistische und fremdenfeindliche Lösungen angeboten werden können. Das gilt in besonderem Maße für die Flüchtlingskrise, den europäischen Einigungsprozess oder die Klimapolitik. Neben den Überschneidungen und Ähnlichkeiten zu anderen Wählergruppen zeigt sich in den Nachwahlbefragungen für die Wahlen der Jahre 2013 und 2017 der German Longitudinal Election Study (GLES) ein distinktes Profil der AfD-Wähler insbesondere in den Bereichen der auf Einwanderungs- und EU-Politik bezogenen Sachfragen. Dieses Muster entspricht der These der „partiellen Repräsentation“ und ist anschlussfähig an Thesen der Populismustheorien. Die Verantwortung für die politischen „Fehlentwicklungen“ wird dabei den herrschenden politischen Eliten und dem politischen System insgesamt zugerechnet.11 (c) Betrachtet man die 5-Prozent Klausel des Wahlrechts der Bundesrepublik als eine Vorkehrung, die (auch) extremistische Parteien aus den Parlamenten heraushalten soll, dann hat die AfD diese Hürde bereits genommen, und zwar nicht nur auf Landes-, sondern auch auf der Bundesebene. Dieser Einzug in die Parlamente ist ein besonderes Alarmsignal, weil damit die legitime Teilnahme der Rechtsextremen an den politischen Entscheidungsprozessen verbunden ist. Was folgt daraus für die Frage nach den Entwicklungschancen des politischen Extremismus in Deutschland? Geht man von dem geschilderten Erklärungsrahmen aus, dann sind Persönlichkeitsmerkmale der geringere Teil des Problems. Rigide Orientierungssysteme sind zwar eine normale Pathologie. Diese Pathologie wird ihrerseits aber von einem modernen Bildungssystem in Schach gehalten. Wirklich wichtig für die großflächige Entwicklung des politischen Extremismus sind dagegen eher die in den Punkten (a) bis (c) beschriebenen Rahmenbedingungen. Das gilt besonders für die jeweilige Problemagenda und die perzipierte Problemlösungskompetenz der von den demokratischen Parteien gebildeten Regierungen. Die glaubwürdige und erfolgreiche Bearbeitung der für die Bevölkerung wichtigen Probleme durch die demokratischen Parteien mindert die Erfolgschancen der extremistischen Parteien – die als normale Pathologie der gesellschaftlichen Entwicklung aber nicht vergehen werden. Zum Weiterlesen 1 Lipset, S. M. (1960): Political Man. The Social Basis of Politics. New York: Doubleday. 2 Vehrkamp, R. und Wolfgang M. (2018): Populismus Barometer 2018. Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern in Deutschland 2018. Berlin und Gütersloh: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung – Bertelsmann Stiftung. 3 Arzheimer, K. und Falter, J. (2002): Die Pathologie des Normalen. Eine Anwendung des ScheuchKlingemann-Modells zur Erklärung rechtsextremen Denkens und Verhaltens. In: Dieter Fuchs, Edeltraud Roller und Bernhard Weßels (Hrsg.): Bürger und Demokratie in Ost und West. Studien zur Politischen Kultur und zum politischen Prozess. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 85-107. 4 Scheuch, E. K. unter Mitarbeit von Klingemann, H.-D. (1967): Theorie des Rechtsradikalismus in westlichen Industriegesellschaften. In: Heinz-Dietrich Ortlieb und Bruno Molitor (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 12-29. 5 Adorno, T. H., Frenkel-Brunswick, E., Levinson, D. J. und Sanford, R. N. (1950): The Authoritarian Personality. New York: Harper. 6 Rokeach, M. (1960): The Open and Closed Mind. Investigations into the Nature of Belief Systems and Personality Systems. New York: Basic Books. 7 Converse, P. E. (1964): The Nature of Belief Systems in Mass Publics. In: David E. Apter (ed.): Ideology and Discontent. New York: Free Press, 206-261. 8 Klingemann, H.-D. (1979): Measuring Ideological Conceptualizations. In: Samuel H. Barnes, Max Kaase et al.: Political Action. Beverly Hills: Sage, 215-254. 9 Lehmann, P. und Matthieß, T. (2017): Nation und Tradition. Wie die Alternative für Deutschland nach rechts rückt. WZB Mitteilungen, Heft 186, Juni 2017:21-24. 10 Lehmann, P., Matthieß T. und Regel, S. (2019): Rechts der anderen: Themen und Positionen der AfD im Parteienwettbewerb. In: Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels (Hrsg. 9: Smarte Spalter. Die AfD zwischen Bewegung und Parlament. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 11 Wagner, A. (2019): Zwischen Euro- und „Flüchtlingskrise“: Ideologie und Sachfrageneinstellungen der AfD Wähler*innen. In: Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels (Hrsg.): Smarte Spalter. Die AfD zwischen Bewegung und Parlament. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.