Arbeitsqualität und mentale Gesundheit am Arbeitsplatz – die wiederentdeckte Arbeitsqualität

Mitte der achtziger Jahre endete zunächst eine Forschungstradition, die unter der Überschrift „Humanisierung der Arbeitswelt“ firmierte. Im Mittelpunkt standen seinerzeit vor allem Fragen der Arbeitsteilung und Arbeitsbelastung, der Lohngerechtigkeit und der Partizipation bei der Gestaltung von Arbeitsprozessen.
Seit einigen Jahren erleben Studien zur Qualität der Arbeit eine Renaissance.

Stellvertretend sind an dieser Stelle die BMAS-Studie „Gewünschte und erlebte Arbeitsqualität“, der „DGB-Index Gute Arbeit“ sowie die jährliche Wiederholungsbefragung bei Luxemburger Arbeitnehmern zum „Quality of Work Index Luxembourg“ zu nennen. Die Studien beleuchten unterschiedliche Aspekte der Arbeitsbedingungen einschließlich der Arbeitszeit, der Arbeitszufriedenheit und der Arbeitsbelastungen. Den Erhebungen verdanken wir die Einsicht, dass ein bemerkenswerter Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Dissonanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erlebt. Besonders ausgeprägt ist diese Diskrepanz bei Lohnfragen, der Führungsqualität, der Arbeitsplatzsicherheit, der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Privatleben sowie der Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zufriedenstellend in den Arbeitsprozess einzubringen (Nübling et al. 2015). Diese Dissonanz ist bei Arbeitnehmern im geringeren Einkommenssegment ausgeprägter als bei Erwerbstätigen im oberen Segment. Aufmerksamkeit verdient, dass nicht einmal 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihrer Führungskraft gute Arbeitsorganisation, Konfliktlösungskompetenz oder die Eröffnung von Entwicklungsperspektiven attestieren (ebenda).
Dass gute Arbeitsbedingungen kein Wunschkonzert von Arbeitnehmern, sondern wichtige Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung eines Unternehmens sind, belegt eindrucksvoll die Studie „Unternehmenskultur und wirtschaftlicher Erfolg“. In einem Linked Employer-Employee-Ansatz können deutliche Effekte zwischen der subjektiv berichteten Arbeitsqualität und der objektiv beobachtbaren, ökonomischen Unternehmensentwicklung belegt werden. Das Credo der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA), wonach attraktive Arbeitsbedingungen eine erfolgreiche Fachkräftesicherung und ein Schlüssel für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen sind, findet hier seine empirische Bestätigung.

Ausfälle wegen psychischer Erkrankungen nehmen zu

Einen Aspekt der Arbeitsqualität wollen wir an dieser Stelle besonders in den Fokus nehmen, weil er für die Arbeitnehmenden und die Unternehmen gleichermaßen von Belang ist. Es geht um die Auswirkungen der Arbeitsqualität auf die Gesundheit. Anlass für diese Inspektion geben die seit Jahren zunehmenden Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen. Gemäß dem DAK-Gesundheitsreport (DAK 2016) bilden nach Muskel-Skelett- und Atemwegserkrankungen psychische Erkrankungen eine Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit. Mit 19,4 Prozent sind psychische Erkrankungen bei Frauen die zweitwichtigste Erkrankung bei Arbeitsunfähigkeit. Bei Männern liegt der Wert mit 13,2 Prozent zwar niedriger, ist aber auch dort der viertwichtigste Erkrankungsgrund.
Obwohl sich im Zehnjahresvergleich die Dauer der Arbeitsunfähigkeitszeiten nur ganz geringfügig verändert hat, hat sich der Stellenwert psychischer Erkrankungen unter den Krankheitsgründen erheblich verändert. Sowohl die psychisch bedingten Krankheitsfälle als auch die krankheitsbedingten Abwesenheitszeiten haben sich in einem rd. 20-Jahreszeitraum fast verdreifacht (DAK 2016: 22). Bei beiden Geschlechtern steigen sowohl die Fälle von Arbeitsunfähigkeit (AU) als auch die AU-Tage mit dem Alter an. Bei Frauen liegen die Anteile jeweils um den Faktor 1,6-1,7 höher als bei Männern.
Mit diesem erschreckenden Anstieg korrespondieren auch die Abgänge in einen krankheitsbedingten Übertritt in Rente. 2015 erfolgte bei den Frauen fast die Hälfte der 86.910 Rentenzugänge wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen. Auch bei den Männern sind psychische Störungen der wichtigste Zugangsgrund in Erwerbsminderungsrenten. Mit 36,7 Prozent liegt der Anteil zwar deutlich niedriger als bei den Frauen; die absolute Größe ist mit 31.557 Fällen allerdings auch hier bemerkenswert. Die Veränderungen über die letzten beiden Dekaden sind zum Greifen: Im Jahr 2000 lag der Anteil der psychisch bedingten Zugänge in Erwerbsminderung noch bei 24,4 Prozent im Mittel der beiden Geschlechter (DRV 2016).
Das durchschnittliche Zugangsalter in Erwerbsminderungsrente betrug 2015 51,6 Jahre. Dieses vorzeitige, krankheitsbedingte Ausscheiden aus dem Erwerbsleben steht in einem diametralen Widerspruch zu den Anforderungen, die aus der demografischen Entwicklung erwachsen. Zum einen erfordert die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Verschiebung des Renteneintrittsalters auf zukünftig 67 Jahre, dass Erwerbstätige diese Schwelle auch gesund erreichen. Ein früher Übergang in die Rente ist mit einer spürbaren Einbuße in der Rentenhöhe verbunden. Ein massenhafter Abgang aus Erwerbstätigkeit aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit ist wegen der drohenden Versorgungslücke sozialpolitisch äußerst bedenklich.
Auch unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten ist der vorzeitige Übergang in Rente problematisch. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird das Arbeitskräfteangebot langfristig sinken. Auch bei hoher Zuwanderung und einer weiteren Erhöhung der Erwerbsquote kann die demografisch bedingte Lücke im Arbeitskräfteangebot nicht geschlossen werden. Je nach Szenario fehlen bis 2060 voraussichtlich 5-7 Mio. Erwerbstätige (Fuchs et al. 2017). Die Gesellschaft und die Unternehmen können es sich nicht leisten, Arbeitskräfte bereits im Durchschnitt 15 Jahre vor dem Regeleintritt in Rente zu verlieren.

Belastende Arbeit und psychische Gesundheit

Vor diesem Hintergrund individueller Absicherung und volkswirtschaftlicher Beschäftigungspotenziale ist die Frage von besonderer Relevanz, welchen Beitrag schlechte Arbeitsbedingungen zur Genese von Stresssymptomen und psychischen Erkrankungen haben und wie dem begegnet werden kann. Dabei gilt es, im Blick zu behalten, dass dauerhafte und wiederkehrende Stressbelastungen zu Veränderungen des vegetativen Nervensystems führen können, die das Risiko für chronische Erkrankungen (z.B. Herz-Kreislauf, Bewegungsapparat, psychische Beeinträchtigungen) erhöhen.
Der Zusammenhang zwischen Arbeitsdispositionen und psychischen Belastungen wurde in verschiedenen Studien geprüft, die infas zum Teil in Kooperation oder auch alleine durchgeführt hat. So belegt eine Studie bei vier arbeitszeitlich hoch belasteten Berufsgruppen (angestellte Ärzte, Publizisten, Programmierer, Werbefachleute), dass ein geringer Entscheidungsspielraum sowie hohe quantitative Anforderungen den größten Einfluss auf kognitive Stresssymptome, auf die Burnout-Symptomatik und die Depressivität von Arbeitnehmern haben. Gut belegt ist auch der Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen. Während sich Overcommitment, also die mangelnde Fähigkeit, sich von beruflichen Aufgaben abgrenzen zu können, verstärkend auf die Stresssymptomatik auswirkt, verringert eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung und ein starker Glaube an die eigenen Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten (Big Five) die Wahrscheinlichkeit, dass Arbeitsbelastungen nicht auf die Gesundheit durchschlagen. Auch die Unterstützung durch das kollegiale und soziale Umfeld wirkt stressverringernd (Schröder et al. 2015).
Dieser Befund wird auch durch eine repräsentative Studie bei älteren Luxemburger Arbeitnehmern bestätigt. Auf Grundlage des theoretischen Modells beruflicher Gratifikationskrisen (ERI) nach Sigist konnte eindrucksvoll gezeigt werden, dass die mentale Gesundheit wie auch der Gesundheitszustand als Ganzes beeinträchtigt werden, wenn in der Wahrnehmung von Arbeitnehmern der Aufwand für ihre Arbeit und der Ertrag dafür aus Balance geraten. Beschränkte Kontroll- und Einflussmöglichkeiten verstärken diesen Effekt noch zusätzlich (Schütz et al. 2016). Physische Belastungen, die lange Zeit im Fokus von Belastungsbeurteilungen standen, haben dagegen nur einen moderaten Einfluss. Wesentliche Faktoren sind gerechte Vorgesetzte, ein gerechter Lohn sowie Mitwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit.

Gute Arbeit als betriebliche Präventionsstrategie

Bildet die aufgezeigte Tendenz zu mehr Arbeitsunfähigkeitszeiten und höheren Drop-Out-Quoten in die Erwerbsminderung aufgrund psychischer Erkrankungen die Kehrseite für gestiegene Arbeitsproduktivität und Arbeitsverdichtung? Möglicherweise! Mangels kontrollierter Studie müssen wir hier aber eine empirische Antwort schuldig bleiben. Mit einiger Sicherheit darf man allerdings feststellen, dass nicht die Arbeitsmenge und –verdichtung allein zu mehr Erkrankung führten. Die Befunde deuten vielmehr darauf hin, dass das Zusammenspiel von Arbeitsanforderungen mit ungünstigen Arbeitsbedingungen die Stressproblematik ausmacht. Für den Arbeitsschutz und die betriebliche Prävention geben die Studien wichtige Hinweise für Interventionsmöglichkeiten. Es ist zu prüfen, wo Belastungsgrenzen liegen, Arbeitszeitregelungen auch die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit berücksichtigen müssen, Entscheidungsspielräum und Führungsverhalten bzw. Wertschätzung verändert werden können. Experimentelle Interventionsstudien belegen, dass die konsequente Veränderung dieser Bedingungen zu einer Verringerung der stressbedingten Erkrankungen führen. Gute Arbeitsqualität ist die beste Prävention.
Darüber hinaus gilt es aber auch, die individuellen Bewältigungsstrategien im Blick zu behalten. Die Stärkung der Selbstkompetenz, mit Stress umzugehen, Overcommitment zu reduzieren und eine realistische Erwartung an die Selbstwirksamkeit sind ein Beitrag, den Arbeitnehmende zur Verbesserung beitragen können.

Zum Weiterlesen:
Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK): Gesundheitsreport 2016, Analyse der Arbeitsun- fähigkeitsdaten, Hamburg 2016
Deutsche Rentenversicherung (DRV): Rentenver-sicherung in Zeitreihen. Oktober 2016 (http://www.deutsche-rentenversicherung.de, letzter Zugriff März 2017)
Fuchs, J., Söhnlein, D., Weber, B. (2017): Projektion des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060. Arbeits-kräfteangebot sinkt auch bei hoher Zuwanderung. IAB-Kurzbericht 6/2017
Nübling, M., Lincke, H.-J., Schröder, H., Knerr, P., Gerlach, I. , Laß, I., Neues Handeln (2015): Gewünschte und erlebte Arbeitsqualität. Abschlussbericht. Frei-burg,/Bonn/Münster: BMAS Forschungsbericht 456 Schröder, H., Köhler, T., Knerr, P., Kühne, S., Moesgen, D., Klein, M. (2015): Einfluss psychischer Belastungen am Arbeitsmarkt auf das Neuroenhancement – empirische Untersuchungen an Erwerbstätigen. Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA
Schütz, H., Peter, R., Harand, J., Schröder, H. (2016): 9. Arbeitsbelastung und Gesundheit älterer Arbeitnehmer in Luxemburg. Bonn: infas (Forschungsbericht im Auftrag der Chambre de salarières Luxembourg) Bender, S., Wolter, S., Laske, K., Kampkötter, P., Sliwka, D., Mohrenweiser, J., Steffes, S., neues handeln (o.J.): Monitor Arbeitsqualität und wirtschaftlicher Erfolg. Erste Studienergebnisse, Berlin: BAuA (INQA)
Du Prel, J.-B., Iskenius, M., Peter, R. (2014): Are effort–reward imbalance and social isolation mediating the association between education and depressive-ness? Baseline findings from the lidA-study. Int J Public Health (2014) 59:945–955
Du Prel, J.-B.,, March, S., Schröder, H., Peter, R. (2015): Berufliche Gratifikationskrisen und Arbeitsunfähigkeit in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 58:996–1004
Hasselhorn,H.-M., Peter, R., Rauch, A, Schröder, H., Swart, E., Bender, S., du Prel, J.-B. Ebener, M., March, S., Trappmann, M, Steinwede, J, Müller, B.H. (2014): Cohort profile: The lidA Cohort Study—a German Cohort Study on Work, Age, Health and Work Participation. International Journal of Epidemiology, 2014, 1–14
Hasselhorn, H.-M., Rauch, A. (2013): Perspektiven von Arbeit, Alter, Gesundheit und Erwerbsteilhabe in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 56: 339–348 Nübling, M., Lincke, H.-J., Schröder, H., Knerr, P.,
„Gewünschte und erlebte Arbeitsqualität. Die Arbeitssituation in deutschen Unternehmen aus Sicht der Beschäftigten. (Hrgs. Initiative Neue Qualität der Arbeit)
Schröder, H., Schiel, S., Schulz, S., Kleudgen, M.
(2013): Mentale Gesundheit bei der Arbeit (S-MGA). Dortmund/Berlin/Dresden: BAuA
Schröder, H., Peter, R. (unter Mitarbeit von H. Schütz und J. Harand) (2016): Begleitende Forschung in der „Alterspolitik“ – Berufliche Stressbelastungen bei älteren Arbeitnehmern. Vortrag anlässlich der CSL-Fachtagung, Arbeitsqualität, Luxemburg, 23. Mai 2016
Schütz, H., Harand, J, Schröder, H. (2015): Quality of work Luxembourg 2015. Bonn 2015 (http://www. csl.lu/enquetes-et-rapports)
Tisch, A. (2015): Health, work ability and work motivation * determinants of labour market exit among German employees born in 1959 and 1965. In: Journal for Labour Market Research, Vol. 48, No. 3, S. 233-245
Tophoven, S., Hiesinger, K. (2015): Psychosoziale Arbeitsbelastungen und Gesundheit. Wie ältere Beschäftigte Arbeitsanforderungen und Belohnungen empfinden. IAB-Kurzbericht 17/2015