Die Mittelschicht wählt – und bei anderen ist es Zufall?

71 Prozent Beteiligung waren es bei der Bundestagswahl 2009. Danach wurde erwartet, dass diese Marke bei der Wahl im Herbst 2013 weiter nach unten rutscht. Doch im Ergebnis blieb die Wahlbeteiligung gemessen an diesem Indikator fast unverändert und lag bei 72 Prozent. Damit liegt sie weiterhin deutlich über der Beteiligung bei Landtags- und Kommunalwahlen. Dies ist jedoch nur der Wert an der Oberfläche. Alle seitdem veröffentlichten Analysen zeigen, dass sich darunter durchaus Veränderungen ergeben.

Die politische Partizipation gemessen an der Beteiligung bei Bundestagswahlen unterscheidet sich immer mehr anhand des Bildungsniveaus und der Zugehörigkeit zu bestimmten Lebensmilieus. Vereinfacht gesagt sinkt sie in eher bildungsfernen und ökonomisch unterdurchschnittlich situierten Gruppen. In Segmenten am anderen Ende dieser Skala bleibt sie dagegen stabil oder steigt sogar an. Die damit verbundene Brisanz steckt in den Auswirkungen auf die Repräsentativität. Der oft beschworene „Wählerwille“ – ein schwieriges Konstrukt – drückt eher die Präferenzen und Erwartungen der besser situierten Bürgerinnen und Bürger aus. Die Stimmen aus den ökonomisch weniger gut dastehenden Bevölkerungsgruppen finden dagegen viel seltener den Weg in die Wahlurne – und damit auch zur politischen Interessensvertretung.

Wahlverweigerung ist bunt

Doch auch diese Beobachtung ist nicht neu. Sie spitzt sich nur zu. Und selbst unter dieser Bedingung kann nicht von einer relativ homogenen Gruppe oder gar einer „Partei der Nichtwähler“ mit eigenem Programm gesprochen werden. Die „Nichtwähler“ sind in ihrer Zusammensetzung mindestens so vielfältig wie die „Wähler“. Und es ist kein zementierter Status, denn die individuelle Beteiligungsentscheidung kann sich von Wahl zu Wahl ändern. Eine Rolle spielen politisches Interesse und aktuelles politisches Tagesgeschehen im Vorfeld einer Wahl. Individuelle Sozialisationsverläufe sind ebenso ursächlich wie Zufälle und schönes oder schlechtes Wetter am Wahltag. Zu beobachten sind sogar Unsicherheit und Unwissen, wie das mit dem Wählen überhaupt funktioniert. In seiner Bedeutung nicht gering zu schätzen ist schließlich schlichtes Desinteresse und die Höherbewertung anderer Themenbereiche.
All diese Faktoren können Ausdruck einer Verweigerungshaltung sein – aus Passivität, aus Enttäuschung, aus Gleichgültigkeit oder aus bewusster Opposition. Damit spiegeln sie auch die Vielfältigkeit von „Verweigerung“ wider – auf der ganzen Spannbreite von destruktivem Verhalten bis zu dem Wunsch, damit konstruktiv etwas zu verändern. Darin enthalten ist auch die Feststellung, dass eine Wahlbeteiligung von etwas über 70 Prozent kein absoluter und gesicherter Wert ist. Er hat in der Vergangenheit deutlich höhere Beträge erreicht und könnte sich in der Zukunft sogar umkehren: 70 Prozent gehen nicht mehr zur Wahl und nur 30 Prozent beteiligen sich. Manche Kommunalwahlen weisen bereits in diese Richtung.

Unterschiedliche Verweigerungsmotive abhängig von der Lebenslage?

Wir wollen den Hintergründen dieser Art von Verweigerung mit breiten Blickwinkeln ein wenig genauer auf die Spur kommen. Dazu haben wir die 2014er-Erhebung des infas-Lebenslagenindex (ilex) mit einem erweiterten Fragenprogramm rund um das Thema Wählen, Nichtwählen und den damit verbundenen ganz profanen oder auch sehr komplexen Motiven kombiniert. Die Kombination der ilex-Ergebnisse mit den Befunden zur politischen Partizipation ermöglicht weitere Differenzierungen bei dem analytischen Blick auf die Wahlenthaltung. Zuletzt wurden im Frühjahr 2014 1.500 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger im Alter ab 18 Jahren telefonisch befragt. Grundlage war eine sogenannte Dual-Frame-Stichprobe. Dieser Ansatz umfasst sowohl Festnetz- als auch Mobilfunknummern. Damit wird auch die Gruppe derjenigen angemessen berücksichtigt, die auf einen Festnetzanschluss verzichten. Das ist ein zentraler Vorteil, da sich diese Gruppe nicht zufällig über die gesamte Bevölkerung verteilt.
„Festnetzverweigerer“ sind eher jünger, leben eher in kleineren Haushalten, stehen ökonomisch eher nicht so gut da. Zu ihnen zählen deutlich mehr Männer als Frauen. Diese Gruppe hätte bei einer reinen Festnetzbefragung keine „Befragungsstimme“. In der Konsequenz würden die Ergebnisse nicht das Meinungsbild der gesamten Bevölkerung abbilden.

Überzeugt, gefährdet, verloren oder gleichgültig – vier Wählersegmente

Verweigerung ist nur eine Entscheidungsmöglichkeit. Eine aktive Teilhabe ist ebenfalls möglich. Doch wie dauerhaft sind solche Entscheidungen im Zeitverlauf? Wird der Verweigerer bei der nächsten Gelegenheit vielleicht zum Teilnehmer? Bezogen auf das Interesse und die Beteiligung an Bundestagswahlen haben wir vier Segmente gebildet, die diese Stufen abbilden. Herangezogen und kombiniert werden verschiedene Selbsteinschätzungen. Die Segmentierung erfolgt unabhängig von der tatsächlichen Wahlteilnahme bei der letzten Bundestagswahl im Herbst 2013, spiegelt diese aber sehr gut wider:
28 Prozent überzeugte Wähler: Sie nehmen nach eigenen haben den letzten Wahlkampf verfolgt und stimmen der Aussage (eher) zu, wählen sei Bürgerpflicht – von ihnen haben sich nach eigener Angabe fast 100 Prozent an der letzten Wahl beteiligt.
35 Prozent gefährdete Wähler: Sie haben bisher ebenfalls regelmäßig gewählt, haben aber den letzten Wahlkampf nicht verfolgt und stimmen der Aussage zur Bürgerpflicht (eher) nicht zu – Wahlbeteiligung 98 Prozent. 18 Prozent Verlorene: Sie beteiligen sich nicht regelmäßig oder auch gar nicht mehr an Bundestagswahlen, haben aber den letzten Bundestagswahlkampf trotzdem interessiert verfolgt – Wahlbeteiligung 28 Prozent.
19 Prozent Gleichgültige: Sie gehen gar nicht oder selten zur Wahl, hatten kein Interesse am letzten Wahlkampf und geben an, das Wählen manchmal auch einfach zu vergessen oder einfach keine Zeit dafür zu haben – Wahlbeteiligung 40 Prozent.
Wählersegmente nach Bildungsniveau und ökonomischem StatusDie Abbildung zeigt die Größe der vier Segmente platziert in einer Darstellung, bei der der ökonomische Haushaltsstatus in der Horizontalen und das Bildungsniveau in der Vertikalen abgetragen werden. Sie illustriert, dass die Segmente der überzeugten und gefährdeten Wähler in beiden Dimensionen überdurchschnittlich abschneiden – sie liegen im rechten oberen Feld. Die Verlorenen und die Gleichgültigen fallen dagegen beide in das linke untere Feld, haben also in beiden Dimensionen unterdurchschnittliche Werte. Die Spitze der Wählerschaft mit Bezug auf eine Bundestagswahl bilden die rechts oben dargestellten überzeugten Wähler.
Anteile der Kombination aus Wählersegment und ilex-Gruppe an Gesamtfallzahl
Zu  ihnen gehört aber nur weniger als jeder dritte potenzielle Wähler. Mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten gehen dagegen eher aus Gewohnheit, bezogen auf die aktuellen Themen und Köpfe, inhaltlich nicht unbedingt informiert zur Stimmabgabe – oder eben auch gar nicht. Die Motive zu dieser Distanzierung sind vielfältig, ebenso wie die Zusammensetzung der vier beschriebenen Gruppen. Mit Blick auf die aktuelle Wahlbeteiligung von 72 Prozent zeigt die Segmentierung aber auch, dass ein überwiegender Teil der Wahl-Verweigerer von der Gruppe der Gleichgültigen gebildet wird. Sie waren nie wählen, haben sich dafür auch kaum interessiert, sind insgesamt eher apolitisch und gehören eher bildungsfernen Schichten an. Der Wahltag hat für sie keinen besonderen Stellenwert, mitunter wird er sogar einfach vergessen. Zusammengenommen ist es für sie offenbar eher unproblematisch, wenn ihre Nicht-Beteiligung dazu führt, dass sie möglicherweise nicht repräsentiert werden.
Nur der kleinere Teil der Nicht-Wähler wird dagegen von politisch Interessierten gebildet, die den Wahlkampf verfolgt haben, eine politische Meinung vertreten, sich dann aber doch eher gegen eine Stimmabgabe entscheiden. Ihnen steht mit den „gefährdeten Wählern“ eine Gruppe gegenüber, die ebenso schwankend ist. Ihre Vertreter entscheiden sich zwar in der Regel für den Gang ins Wahllokal, tun dies aber eher aus Gewohnheit und weniger aus wirklicher Überzeugung oder aktivem Interesse. Sie zählen gleichermaßen nicht zu den sicheren Wählern. Die Macht der Gewohnheit und eine dahinter liegende Basis-Bindung bringt sie zwar in das Wählerlager, aber dies muss bei zukünftigen Wahlen nicht notwendigerweise so bleiben.

Lebenslage bestimmt mit über Wahlverweigerung – aber nicht allein

Ein deutlicher Zusammenhang zeigt sich auch bei dem ilex-Wert der vier Segmente. Auf der verwendeten IndexSkala von 0 bis 100 mit einem Median von 61,2 liegen die „überzeugten Wähler“ mit 62,6 Punkten am höchsten. Bei den „gefährdeten Wählern“ fällt er mit 60,7 Punkten schon kleiner aus. Einen deutlichen Abstand haben dann die beiden Segmente, in denen mit großer Mehrheit nicht gewählt wird: 54,1 bei den „verlorenen Wählern“ und 53,3 bei den „gleichgültigen Wählern“. In den beiden Wähler-Segmenten sehen also die individuellen Zukunftsaussichten sowie die wirtschaftliche und soziale Lage deutlich besser aus als in den beiden Nicht-Wähler-Gruppen. Doch wie so oft bilden Mittelwerte nicht alles ab. Wird auch der ilex in vier Gruppen von einer „einfachen“ bis zu einer „sehr gehobenen“ Lebenslage segmentiert und anschließend mit den vier auf die Wahlteilnahme bezogenen Gruppen kombiniert, zeigen sich zwar eindeutige Trends, aber auch eine relativ große Pluralität (Abbildung oben): In den beiden Gruppen der „überzeugten“ und „gefährdeten Wähler“ offenbart sich ein größerer „Mittelschichtsbauch“. Das Lebenslagensegment „einfach“ dagegen ist zu fast gleichen Anteilen in allen Wählergruppen enthalten. Und auch das am anderen Skalenende platzierte Segment „sehr gehoben“ ist in allen Gruppen zu nicht unwesentlichen Anteilen vertreten. Am geringsten fällt es bei den „verlorenen Wählern“ aus, also den potenziellen Wählern, die sich grundsätzlich für Politik und Wahlen interessieren, sich aber aus verschiedenen Gründen eher abgewendet haben.

Bildung als wichtiger, aber nicht einziger Erklärungsfaktor

Diese verschiedenen Lebenslagen- und Handlungsmuster werden deutlich, wenn ausgewählte Kennwerte nach den vier Wählergruppen differenziert werden.
Diese zeigt die unten dargestellte Abbildung. Bei der Aussage „Es lohnt sich nicht, zur Wahl zu gehen, weil man mit seiner Stimme ohnehin nichts bewirken kann“, findet man bei den überzeugten wie auch bei den gefährdeten Wählern mit nur fünf beziehungsweise drei Prozent kaum Zustimmung. Am höchsten ist sie mit 38 Prozent bei den Verlorenen. Zur Erinnerung: Sie befassen sich mit dem Wahlkampf, bleiben der Wahl aber eher fern. Dieser Wert kann also auch als Enttäuschung über das verfügbare Angebot gedeutet werden. Bei den Gleichgültigen sinkt er wieder auf „nur“ 29 Prozent. Ein ähnliches Ergebnis zeigen die Zustimmungsniveaus bezogen auf die Aussage „Keine Partei vertritt meine Interessen“. Die beiden Gruppen der Wählenden stimmen einheitlich kaum zu, die Verlorenen zu immerhin 31 Prozent und die Gleichgültigen zu 25 Prozent. Auch die verfügbaren Bildungs- und Schichtindikatoren zeigen in diese Richtung, mit einer Zuspitzung bei den Gleichgültigen. So haben sie den größten Anteil von formal nur niedrig gebildeten Personen. Auch bei der im Interview erfragten Schicht-Selbsteinstufung zeigen sie bei der Klassifikation „Unterschicht“ mit Abstand den höchsten Wert. Zugespitzt lässt sich also sagen: Wählen ist ein Mittelschichtsphänomen.
Trotzdem belegt auch diese Merkmalsübersicht, dass keine der Nichtwählergruppen wirklich homogen ist. Die Beschreibung darf also nicht eindimensional ausfallen. Genauso wenig wie die Antworten auf die Frage, wie sich die wahlferneren Gruppen stimulieren und für die sichere aktive Wählerschaft zurückgewinnen lassen. Zwar liegt im Bildungsniveau einer der Schlüsselfaktoren, aber nur für sich genommen erklärt er eine mögliche Wahlabstinenz nicht. Auch formal hochgebildete und besonders gut situierte Wahlberechtigte machen von ihrem Wahlrecht mitunter keinen Gebrauch oder sind eher als „politikfern“ einzustufen.
Weitere Merkmale der Wählergruppen: Einstellungen, Bildung, Schicht

Kanal zur Wahlbeteiligung zeigt Verluste potenzieller Wähler auf verschiedenen Stufen

Eine weitere Perspektive auf dem Weg in die Wahlverweigerung öffnet eine schrittweise Betrachtung, wie viele mögliche Wähler auf verschiedenen Entscheidungsstufen verloren gehen und ob sich dies nach bestimmten Bevölkerungsgruppen unterscheidet. Die obere Abbildung zeigt in Anlehnung an Verfahren, die bei der Untersuchung von Markenwahrnehmungen üblich sind, einen Kanal zur Wahlbeteiligung. Er beginnt auf der obersten Stufe mit allen Wahlberechtigten und endet in dieser Darstellung auf der fünften Stufe mit der tatsächlichen Teilnahme an der letzten Wahl.
Wahlkanal: Wie viel geht wo verloren?Bereits auf Stufe 2 – sie wird gebildet durch die Frage nach der Vertrautheit mit dem Wahlprozess – gehen drei Prozent der Wahlberechtigen verloren. Sie wissen nach eigenen Angaben „gar nicht, wie das mit dem Wählen geht“. Es verbleiben 97 Prozent der Wahlberechtigten. Von diesen haben sich sieben Prozentpunkte gar nicht mit dem Wählen oder dem politischen Angebot beschäftigt. Auf der dritten Stufe finden sich also nur noch 90 Prozent, die mit dem Wählen vertraut sind und sich mit dem aktuellen Wahlangebot auch befasst haben. Von ihnen haben elf Prozentpunkte gar nicht erwogen, zur Wahl zu gehen. Dies trifft nur auf 79 Prozent der Wahlberechtigten zu. Von diesen wiederum haben nach eigenen Angaben im Interview 74 Prozent tatsächlich ihren Stimmzettel der Wahlurne übergeben oder Briefwahlunterlagen ausgefüllt und abgeschickt – eine gute Annäherung an die 72 Prozent, die nach Angaben des Bundeswahlleiters von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht haben.
Noch aufschlussreicher wird die Betrachtung des Wahlkanals, wenn er nach verschiedenen Gruppen differenziert ausgewertet wird. Dies zeigt die Darstellung
auf der nächsten Seite. Es verändern sich vor allem die Verlustraten auf den verschiedenen Stufen und natürlich die jeweilige Stufengröße. Dies erlaubt Rückschlüsse auf mögliche Strategien, bestimmte Wählergruppen entweder als Wahlteilnehmer zu erhalten oder aber ihre Nichtwähler vom Wählen zu überzeugen – deren Verweigerungshaltung also zu durchbrechen.
Ausgewählt wurden jeweils zwei Kontrastgruppen – also die Segmente eines Merkmals, die jeweils die stärksten Ausschläge nach oben oder unten im Wahlkanal
aufweisen: für das Bildungsniveau operationalisiert anhand der Schulbildung die Gruppen „niedrig“ (39 Prozent der Bevölkerung) und hoch (28 Prozent) sowie für die Gruppenzugehörigkeit im ilex-Lebenslagenindex „einfach“ (25 Prozent) und „sehr gehoben“ (23 Prozent). In der Bildungsgruppe „niedrig“ sind die
Veränderungen Stufe für Stufe relativ gering: Am Ende ergeben sich 74 Prozent, die nach eigenen Angaben gewählt haben. In der Gruppe mit hohem Bildungsniveau sind es immerhin 80 Prozent. Auch die Verlustraten sind gering. Allerdings zeigen sich für die niedrig gebildete Gruppe überproportionale Verluste bei den Stufen „Vertrautheit mit dem Wählen“ und der „Beschäftigung mit der Wahl“. Deutlicher fallen die Unterschiede aus, wenn der komplexere Lebenslagenindex herangezogen wird. Hier zeigt sich, dass eine im ilex abgebildete unterdurchschnittliche sozio-ökonomische Lage auch mit niedriger Wahlbeteiligung korrespondiert. Sie liegt in der unteren Lebenslagengruppe bei nur noch 67 Prozent. Auch hier tritt das deutlichste Minus bei der Frage nach der Beschäftigung mit dem Wahlkampf auf. Auf dieser Stufe geht etwa ein Fünftel der möglichen Wähler aus diesem Segment verloren – von 92 auf 73 Prozent. Ganz anders wiederum in der hohen Lebenslagengruppe. Dort ist dieser Verlust nicht einmal halb so groß (von 99 auf 91 Prozent) und am Ende geben 82 Prozent an, sich an der letzten Bundestagswahl beteiligt zu haben.

Was heißt das für eine bessere Wählerbindung?

Die vorgestellten Analysen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dazu haben wir hier nicht den Raum. Die gewählten Blickwinkel bestätigen zunächst die schon in anderen Wahlanalysen hervorgehobene unterschiedliche Wahlpartizipation abhängig von Schicht- und Bildungsmerkmalen – mit einer besonders hohen Beteiligung in der besser gebildeten Mittelschicht. Doch sie zeigen auch, dass sich in allen gesellschaftlichen Gruppen Mobilisierungsprobleme ergeben können.

  • Im wahrsten Sinne vielschichtig stellen sich die „gleichgültigen Wähler“ dar. Sie sind quer durch die potenzielle Wählerschaft anzutreffen – unten wie oben – mit einem Plus in den statusniedrigeren Gruppen. Zu dieser Gruppe zählt etwa jeder fünfte Wahlberechtigte.
  • Das Segment der „verlorenen Wähler“ ist von Mobilisierungsdefiziten am ehesten betroffen. Dabei sind sie eigentlich politisch interessiert, äußern sich aber über die Politik eher enttäuscht. Sie sind überdurchschnittlich häufig formal schlechter gebildet und ökonomisch weniger gut situiert. Zu ihnen zählt ebenfalls fast jeder fünfte Wahlberechtigte.
  • Mit mehr als jedem Dritten ist die Gruppe der „gefährdeten Wähler“ am größten. Sie wählen bisher ganz überwiegend. Dies ist aber keineswegs selbstverständlich. Ihre Vertreter sind verhältnismäßig wenig empfänglich für politische Botschaften und wählen oft nur aus alter Gewohnheit. Sie sind stark mittelstandsgeprägt und bezogen auf die Lebenslagen am ehesten eine echte „Querschnittsgruppe“.
  • Es bleibt der 28 Prozent umfassende, harte Kern der „überzeugten Wähler“. Sie sind eher statushöher, aber auch in den niedrigeren Statusgruppen vertreten. Unter dem Strich – daran sei noch einmal erinnert – finden sich damit mehr als 70 Prozent, für die der Gang in die Wahlkabine nicht sicher ist. Er hängt von aktuellen Stimmungen und manchmal sogar von Zufällen ab, wie die nicht unbedeutenden Zustimmungsraten beispielsweise zu Aussagen wie „manchmal vergesse ich einfach, zur Wahl zu gehen“ nahelegen.

Kontrastgruppen Wahlteilnahme und Lebenslage im Wahlkanal: unterschiedliche „Verlustraten“

Das skizzierte Bild ist keineswegs schwarz-weiß. Damit verbieten sich eindimensionale Schlussfolgerungen. Ein mögliches Maßnahmenbündel ist vielschichtig und eher mittel- als kurzfristig wirksam. Natürlich kommt es auf spannende, polarisierende und quer zu eingespielten Routinen verlaufende politische Diskurse an. Dies gilt für alle politischen Ebenen von der Kommune bis zum Bund. Wichtiger und anspruchsvoller sind Bildungsvermittlung und gesellschaftliche Teilhabe. Profitieren würden übrigens alle politischen Gruppen, denn obwohl die Parteipräferenzen der vier Wählersegmente sich ein wenig unterscheiden, bietet eine hohe und stabile Wahlbeteiligung für jede politische Gruppierung etwas. Aber das ist eine andere Geschichte.

Zum Weiterlesen:
Güllner, Manfred (2013): Nichtwähler in Deutschland. Herausgegeben von Dr. Dietmar Molthagen für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin/ Politischer Dialog.
Hadjar, Andreas & Köthemann, Dennis (2014): Klassenspezifische Wahlabstinenz – Spielt das Vertrauen in politische Institutionen eine Rolle?
In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Springer VS, 66. Jahrgang, Heft 1, März 2014: S. 51-76.
Neu, Viola (2012): „Dann bleib ich mal weg“ – Der Mythos der „Partei“ der Nichtwähler. Forum Empirische Sozialforschung. Eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Sankt Augustin/Berlin. Schäfer, Armin, Vehrkamp, Robert & Gagné, Jérémie Felix (2013): Prekäre Wahlen. Milieus und soziale Selektivität der Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2013. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.
Vehrkamp, Robert & Hierlemann, Dominik (2013): Ziemlich unpolitische Freunde – wer in Deutschland warum nicht mehr wählt. EINWURF – Ein Policy-Brief der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, Ausgabe 1/2013.