Eine sich vertiefende Spaltung

„Der Islam ist nicht mein Feind, unser größter Feind ist die Dekadenz.“1 Diese Worte des Thüringer Landesvorsitzenden der Alternative für Deutschland (AfD), Björn Höcke, stellen eine Kampfansage an die liberale politische Kultur der Bundesrepublik dar. infas hat dem Phänomen Rechtspopulismus seit geraumer Zeit Aufmerksamkeit geschenkt. Im Rahmen einer Kooperation2 mit der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ gingen wir bereits im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 der Frage nach, wie sich die zeitgenössische politische Konfliktstruktur in Deutschland empirisch beschreiben lässt. Zur Messung politischer Einstellungen orientierten wir uns dazu an einem neuen Konfliktmodell (und der entsprechenden Operationalisierung) von Ronald Inglehart und Pippa Norris3, welches beide Autoren angesichts weltweiter politischer Erfolge des Rechtspopulismus entwickelt haben.

Nach unserem empirischen Befund besteht auch für die Bundesrepublik – mit Blick auf zentrale gesellschaftspolitische und identitätspolitische Fragen – eine neue politische Scheidelinie mit den Polen „Rechtspopulismus“ und „kosmopolitischer Liberalismus“. Sie liegt quer zum herkömmlichen sozioökonomischen „Links-Rechts“- Konflikt um wirtschafts- und sozialpolitische Fragen. Der sozioökonomische Konflikt ist zwar nach wie vor existent, hat hingegen an politischer Bedeutung eingebüßt. Politische Mobilisierung findet, sofern nicht auch ökologische Aspekte angesprochen sind, sehr stark anhand gesellschaftspolitischer Streitfragen statt. Der moderne Rechtspopulismus und seine politischen Inhalte bilden hierbei ein wichtiges Element der Polarisierung. Unser Befund zeigte im Sommer 2017 eine empirisch ermittelte Zustimmung von 23 Prozent für rechtspopulistische Aussagen. Als relevante Bestimmungsgründe für solche Einstellungen konnten wir die Bildungsferne, ökonomisch niedrige Lebenslagen und zudem das wachsende Gefühl, politisch nicht mehr richtig vertreten zu sein, festmachen. Trotz dieser neuen Beobachtung eines geschlossenen rechtspopulistischen Einstellungskomplexes ist gleichwohl festzuhalten: In der Bundesrepublik sind Rechtspopulisten in der Minderheit.

Mehrheitlich zeigen die Bürgerinnen und Bürger in gesellschaftspolitischen Fragen eine offene und tolerante Haltung. Bei der Bundestagswahl 2017 zog die erst 2013 gegründete AfD mit 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag ein. Stand Februar 2020, ist sie in allen deutschen Landtagen mit teils vielen Sitzen vertreten. Vor diesem Hintergrund analysieren wir mittels einer Wiederholungsmessung, wie sich die Zustimmung zur rechtspopulistischen Ideologie in den vergangenen zwei Jahren entwickelt hat.

Die „wahren“ Volksvertreter

In den von Inglehart und Norris entwickelten Items, die wir für die Bundesrepublik adaptiert und faktorenanalytisch untersucht haben, bilden sich, bei nahezu identischen empirischen Ergebnissen für beide Messungen 2017 und 2019 zentrale Elemente des Rechtspopulismus ab: so der politische Autoritarismus, der Affekt gegen die als undemokratisch angesehene Europäische Union und auch die Anti-Establishment-Komponente.

Demnach sind nicht die herkömmlichen Parteien, sondern die neue Rechtspartei AfD die „wahre“ Vertretung „des Volkes“. Dieser selbst zugesprochene Anspruch ist ein Leitmotiv, ja die eigentlich namengebende Komponente des Rechtspopulismus. Es ist eine Frontstellung gegen die angeblich korrumpierte Elite, Bestandteil eines Syndroms, das im 20. Jahrhundert zunächst als lateinamerikanische Variante einer autoritären Demokratie (wie im Peronismus) auftrat. Heute hat es weltweit auch in den Demokratien Verbreitung gefunden, befindet sich aber in einer klaren Frontstellung. In der Bundesrepublik steht dem Rechtspopulismus eine politische Orientierung bei der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegenüber, die eine betont weltoffene, gesellschaftlich-pluralistische, nicht am Nationalen orientierte Einstellung einnehmen. Zuwanderung gilt nicht als Bedrohung, sondern tendenziell als Bereicherung der eigenen Kultur. Politische Energien richteten sich hier bereits seit den siebziger Jahren auch auf sexuelle und kulturelle Minderheiten, was sich als besonders konfliktreich erwies.

Inglehart und Norris sehen den Rechtspopulismus daher auch als Gegenreaktion auf diese Identitätspolitik und sprechen vom „Cultural Backlash“.4 Dabei ist bemerkenswert, dass im Diskurs häufig von „kosmopolitischen Eliten“ gesprochen oder, ebenfalls eingrenzend, ein sogenannter „Kampf um das Bürgerliche“5 beschworen wird; so, als ginge es bei kosmopolitischem Liberalismus um Vorlieben eines schmalen, gehobenen Segments der Gesellschaft. Solche Zuschreibungen gehen, kritisch betrachtet, der Anti-Establishment-Rhetorik der Rechtspopulisten auf den Leim. Die Daten zeigen es anders: Gesellschaftspolitische Einstellungen unter dem Rubrum des kosmopolitischen Liberalismus sind so wenig bloß die Angelegenheit von Eliten, wie sie „dekadent“ sind.

Es handelt sich vielmehr um eine breit verankerte Haltung quer durch die gesamte Gesellschaft, die seit 2017 noch gewachsen ist. Als Indiz kann hier auch der enorme politische Aufstieg von Bündnis 90/Die Grünen gesehen werden. Die deutsche Wählergunst hat sie zur zweitstärksten politischen Kraft gemacht. Es ist keineswegs die einzige Partei, die liberal-kosmopolitische Auffassungen vertritt. Die Grünen sind, im Rahmen der betrachteten Konfliktlinie, jedoch eine der beiden relevanten „Pol“-Parteien. Der andere „Pol“ ist die AfD.

Seit 2017 ist in der deutschen Bevölkerung indes auch die Zustimmung zu rechtspopulistischen Aussagen gestiegen und liegt – auf Basis unserer Erhebung 2019 – nunmehr bei 29 Prozent. Gemeint sind dabei die Zustimmungswerte zu ideologischen Aussagen und nicht konkrete Wahlabsichten, etwa der AfD. Der Rechtspopulismus, so sagen es vielfache Diagnosen jenseits der von uns ermittelten Zahlen, dringt immer weiter in die Kapillaren der Gesellschaft ein. Eine Vielzahl von Faktoren kommt hier zusammen: die Durchdringung rechtspopulistischer Inhalte in den sozialen Netzwerken, die öffentliche Präsenz in Landesparlamenten und im Bundestag, Auftritte in Talkshows, Gastbeiträge in großen Tageszeitungen oder mobilisierende Wahlkämpfe in allen Regionen. Dabei verfolgen die rechtspopulistischen politischen Eliten beobachtbar die Strategie, im politischen Diskurs die Grenzen des Sagbaren Stück für Stück zu verschieben. Einstmals als extrem geltende Positionen scheinen dadurch konventionell und hoffähig, somit auch für Personen ohne eigentlich rechtspopulistische Orientierung schrittweise akzeptabler und wählbarer.

Die Polarisierung im West-Ost-Vergleich

Ein besonderes Augenmerk legten wir bei unseren Analysen auf einen Vergleich der politischen Strukturen im Westen und im Osten Deutschlands. Dabei zeigt sich, dass die Anhänger der AfD im Osten offenbar weit radikaleren rechtspopulistischen Anschauungen anhängen als jene im Westen. Im Gegenzug haben die Anhänger der Linken im Osten deutlich liberalere Vorstellungen als ihre Parteifreunde im Westen. Im Einklang mit diesem Befund haben die klassischen Parteien CDU, FDP und SPD mit Ausnahme der Grünen in Ost und West ein kaum unterscheidbares Profil in Hinblick auf die beiden hier betrachteten Dimensionen. Anhänger der Grünen sind hingegen eindeutig dem Rechtspopulismus gegenüber klar ablehnend und kosmopolitisch positioniert. Der Unterschied zwischen West und Ost hat bei dieser Partei eher eine quantitative Dimension: Im Osten haben die Grünen derzeit größere Schwierigkeiten, Anhänger zu finden, als im Westen Deutschlands. Auch dies ist Ausdruck der angesprochenen Polarisierung. Abschließend ist festzustellen, dass offenbar die Nichtwähler im Osten eher ein Reservoir für die AfD sind, was für den Westen in der Eindeutigkeit nicht gesagt werden kann.

Zum Weiterlesen:
1 Müller, C.P. (2016): Nein zur Toleranz. In FAZ Online 18.5.2016
2 Wefing, H. (2017): Wie tolerant sind die Deutschen? In: ZEIT Online
3 Inglehart, R.F. und Norris, P. (2016): Trump, Brexit, and the Rise of Populism: Economic Have-Nots and Cultural Backlash. Harvard Kennedy School, Faculty Research Working Paper Series, RWP16-026
4 Inglehart, R.F. und Norris, P. (2019): Cultural Backlash. Trump, Brexit and Authoritarian Populism, Cambridge University Press
5 Vgl. Reckwitz A. (2020): Kampf um das Bürgerliche, DER SPIEGEL 8/2020

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