Kinder fragen!

Informationen über die Lebenswelten von Kindern werden im Rahmen von standardisierten Befragungen häufig als Proxy-Informationen von einem oder beiden Elternteilen erhoben. Dieses Vorgehen beschränkt nicht nur die Art von Informationen, die überhaupt erhoben werden können, sondern schließt zudem die Perspektive der Kinder selbst gänzlich aus. Angesichts der Bedeutung der Kinder- und Jugendforschung im Bereich Bildung, Gesundheit und Familie verwundert diese Beschränkung.

Denn zahlreiche Studien des Deutschen Jugendinstituts (DJI), die Zwillingsfamilienstudie TwinLife, aber auch das Nationale Bildungspanel (NEPS) zeigen, dass Kinder schon ab einem Alter von 5 oder 7 Jahren selbst befragt werden können, sofern zielgruppenspezifische Besonderheiten im Erhebungsdesign und den Erhebungsinstrumenten berücksichtigt werden.
Die Herausforderungen einer altersgerechten Fragebogenkonstruktion lassen sich entlang des kognitiven Prozesses der Beantwortung von Fragen verdeutlichen. Denn unabhängig vom Alter müssen die Befragten im Rahmen des iterativen Prozesses den Wortlaut einer Frage verstehen, die erfragten Informationen abrufen können, die Übereinstimmung der abgerufenen Informationen mit der Frage überprüfen und die Antwort der wahrgenom menen Situationsanforderung entsprechend äußern (im Original: Tourangeau 1984; eine sehr gute Zusammenfassung findet sich in Schnell 2019).

Die Frage verstehen

So trivial es sich anhört, so anspruchsvoll ist es, Fragen zu entwickeln, die keine Begriffe enthalten, die die Befragungsperson nicht kennt oder deren Interpretation zwischen dem Fragesteller und dem Befragten abweicht. Bei der Befragung von Kindern wird dies dadurch erschwert, dass die Fragen zwar für Kinder gedacht sind, aber durch Erwachsene erstellt werden. Insofern ist die Überprüfung der altersgerechten Sprache im Rahmen eines Pretests unabdingbar. Dabei ist jedoch zu beachten, dass Kinder gleichen Alters über einen sehr unterschiedlichen Wortschatz verfügen können. Dies kann sowohl einzelne Begrifflichkeiten als auch die Frage als Ganzes betreffen. Beispiel: „In unserer Klasse herrscht eine angenehme Atmosphäre.“ Viel zu oft enthalten Fragen etwa Redewendungen, die von Kindern gleichen Alters entweder gar nicht, wortwörtlich oder sehr unterschiedlich verstanden werden. Beispiel: „Mir geht die Situation immer wieder durch den Kopf.“ Da die Wortschatzentwicklung mit anderen Merkmalen zusammenhängen kann, sind hier systematische Antwortverzerrungen zu befürchten.

Die Informationen abrufen

Um eine Frage beantworten zu können, muss die Befragungsperson die erfragte Meinung oder Information abrufen können. Es sollte daher stets kritisch hinterfragt werden, welche Informationen den Kindern überhaupt vorliegen und welche nur oder besser von einem Elternteil erfragt werden können. So sind in der Regel weder Informationen über das Haushaltseinkommen noch allgemeine politische Einstellungen oder gesellschaftliche Vorstellungen Bestandteile der täglichen Lebenswelt von Kindern. Beispiel: „Eine lebensfähige Demokratie ist ohne politische Opposition nicht denkbar.“ Dagegen können Kinder häufig sehr konkrete Angaben darüber machen, was sie sich für sich selbst oder für ihre Familie wünschen und vorstellen.
Sowohl retrospektive als auch zukunftsgerichtete Fragen sind grundsätzlich denkbar. Das erfragte Ereignis sollte jedoch stark verankert sein und der Berichtszeitraum für das Kind nachvollziehbar gewählt werden. Die Nennung von Beispielen als Erinnerungshilfe ist bei Erwachsenen zwar üblich, kann jedoch bei Kindern dazu führen, dass die Frage an sich durch diese Beispiele oder Schlagwörter überlagert wird. Beispiel: „Wie oft hast Du im letzten Jahr eine Oper, ein Ballett oder ein klassisches Konzert besucht?“ Kind: „Ballett. Ich war schon einmal im Ballett, das war der Nussknacker.“

Ein Urteil bilden

Die abgerufene Meinung oder Information wird durch den Befragten dahingehend überprüft, ob sie vollständig und präzise genug ist, um eine Antwort geben zu können. Während Erwachsene diesen Prozessschritt oftmals im Sinne der Nutzenmaximierung nur mit minimal notwendigem Aufwand nachzugehen scheinen, befolgen ihn Kinder sehr viel gewissenhafter. Bei Kindern scheint die Angst zu überwiegen, eine falsche oder unzureichende Antwort zu geben. Umso wichtiger ist es, Fragen auszuwählen, für die die Informationen dem Kind tat sächlich vorliegen.

Interviewer: „Wie oft redet ein anderes Kind schlecht über Dich, damit die anderen Dich nicht mehr mögen?“ Kind: „Das weiß ich nicht, das bekomme ich ja nicht mit.“
(aus einem Pretest mit einem Kind im Alter von 6 Jahren)

Üblicherweise überlegt die Befragungsperson zu diesem Zeitpunkt auch, ob es sinnvoll (rational) ist, eine ehrliche Antwort zu geben. Auch wenn schon Kinder ein Gefühl für sozial angemessenes Verhalten entwickeln, scheint ihr Antwortverhalten stärker davon geprägt zu sein, was sie persönlich als gut und richtig verstehen (vgl. Kränzl-Nagl und Wilk 2000). So kann auch der ganz persönliche Wunsch eines Kindes nach einer „heilen“ Familie aber letztendlich dazu führen, dass Fragen hinsichtlich des Verhälnisses innerhalb der Familie nicht wahrheitsgemäß beantwortet werden.
Bei der Befragung von Kindern ist zudem immer von der Anwesenheit Dritter, in der Regel der Eltern, häufig jedoch auch noch weiterer Geschwister, auszugehen. Dieser Umstand muss bei allen sensitiven Fragen mit berücksichtigt werden. Beispiel: „Hast Du schon einmal versucht, etwas in einem Kiosk, Kaufhaus oder Geschäft mit zunehmen, ohne zu bezahlen?“ Je nach Alter und damit Lesefähigkeit der Kinder kann es insofern empfehlenswert sein, Teile des Fragebogens als Selbstausfüller zu konzipieren. Ist dies nicht möglich, sollten Anwesenheit und mögliche Eingriffe von Dritten unbedingt dokumentiert werden.

Eine Antwort formulieren

Letztendlich muss die Befragungsperson die potenzielle Antwort in den (meist vorgegebenen) Antwortkategorien abbilden. Dabei können auch die vorgegebenen Antwortkategorien Einfluss auf das Verständnis der Frage haben. Kinder ziehen, ebenso wie Erwachsene, bei nicht eindeutigen Frageformulierungen auch die Antwortkategorien zurate, um den Sinn der Frage zu ermitteln. Gleichzeitig können auch die Antwortkategorien selbst zu Verständnisproblemen führen. Auch diese müssen somit kritisch auf altersgerechte Formulierungen geprüft werden.
Während bei der Befragung von Erwachsenen ein Wechsel von Antwortkategorien und -skalen sinnvoll sein kann, um Skaleneffekte zu kontrollieren, kann dies bei Kindern zur Überforderung führen. Sofern ein Listenheft verwendet wird, kann es zudem hilfreich sein, die Antwortkategorien zusätzlich durch Illustrationen abzubilden. So lassen sich viele Antwortskalen beispielsweise durch Smileys darstellen. Da jedoch auch die Illustration einen Messeffekt haben kann, sind visuelle Antwortskalen ebenso zu testen wie ausformulierte Antwortkategorien.

Sorgfalt ermöglicht den Lückenschluss

Unter Beachtung der altersspezifischen Voraussetzungen gibt es keinen Grund, Kinder nicht zu befragen. Insbesondere gibt es keine Hinweise dafür, dass Kinder im Vergleich zu Erwachsenen schlechtere Informanten sind, sofern die Fragebogeninhalte sorgfältig ausgewählt werden. Es bedarf jedoch eines zielgruppenspezifischen Erhebungsdesigns unter Berücksichtigung der datenschutzrechtlichen und methodischen Anforderungen sowie eines altersgerechten Fragebogens. Dann kann die Alterslücke bei empirischen Befragungen geschlossen werden, was auch wünschenswert ist.
Da es bisher kaum Studien gibt, die sich mit der Validierung von Fragen bei Kindern beschäftigen, sind sorgfältig durchgeführte Pretests hierfür unabdingbar. Die kritische Auseinandersetzung mit der Verständlichkeit und den Inhalten von Fragen kann aber auch für die Befragung anderer Zielgruppen sensibilisieren. Denn viel zu oft scheitert der oben dargestellte Frage-Antwort-Prozess auch bei Erwachsenen aufgrund einer unzureichenden Fragebogenkonstruktion.

Zum Weiterlesen:
Fuchs, M. (2004): Kinder und Jugendliche als Befragte. ZUMA-Nachrichten 54, Jg. 28: 60-88.
Kränzl-Nagl, R. und Wilk, L. (2000): Möglichkeiten und Grenzen standardisierter Befragungen unter besonderer Berücksichtigung der Faktoren soziale und personale Wünschbarkeit. In: Heinzel, F. (Hrsg.): Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Weinheim: Beltz Juventa.
Schnell, R. (2019): Survey-Interviews: Methoden standardisierter Befragungen. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag.
Stecher, L. und Maschke, S. (2011): Die quantitative Kindheitsforschung als Beitrag zur Vermessung der Kindheit. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 3: 281-298.
Tourangeau, R. (1984): Cognitive Science and Survey Methods. In: Jabine, T. et al. (Hrsg.): Cognitive Aspects of Survey Design: Building a Bridge Between Disciplines. Washington: National Academy Press. Trautmann, T. (2010): Interviews mit Kindern: Grundlagen, Techniken, Besonderheiten, Beispiele. Wiesbaden: VS Verlag.

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