Polarisierende Lockdown-Varianten

Im März 2020 wurden staatliche Maßnahmen gegen die Ausbreitung des  Corona-Virus beschlossen, die bis dato nie gekannte Einschränkungen des  öffentlichen Lebens bedeuteten. Der in der Bundesrepublik historisch  erstmalige Lockdown dauerte zwei Monate an, bis erste Lockerungen in  Kraft traten. infas hat den Ereignissen damals besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einem Lagemaß-Artikel sind wir den Einstellungen der  Bevölkerung bezüglich eines grundlegenden Zielkonflikts nachgegangen:  dem Konflikt zwischen einerseits möglichst umfassend wirksamem Schutz  durch Kontaktverbote und andererseits der Aufrechterhaltung  wirtschaftlicher Tätigkeit. Ergebnisse der infas-Mehrthemenbefragung  deuteten diesbezüglich auf erste Spuren einer beginnenden Politisierung und Polarisierung hin.

Nun ist mehr als ein Jahr vergangen und es lässt sich die Frage aufwerfen,  wie sich die Wahrnehmung der Bürger über die Zeit verändert hat. Welche  Einstellung überwog, nachdem es zum Eintreten eines zweiten Lockdowns  zum Ende des vergangenen Jahres kam? Haben Unterschiede zwischen  Anhängern unterschiedlicher politischer Parteien zugenommen?

Im Rahmen der infas-Mehrthemenbefragung wurde zwischen April 2020  und März 2021 pro Monat rund 1.000 Bürgern ab 18 Jahren folgende Frage  gestellt: Welche Entscheidung würden Sie befürworten? Alle Bürger sollten  durch ein Kontaktverbot geschützt werden, auch wenn die Wirtschaft  darunter leidet. Oder: Nur Risikogruppen (Kranke und Ältere) sollten durch  ein Kontaktverbot geschützt werden, damit die Wirtschaft möglichst wenig  darunter leidet.

Zu Beginn des zweiten Quartals 2020 war zu beobachten, dass die Bürger in  zwei annähernd gleich große Lager gespalten waren. Im April vergangenen  Jahres befürworteten 46 Prozent ein umfassendes Kontaktverbot und 50  Prozent Kontaktbeschränkungen nur für Risikogruppen. Im Juni überwogen  mit 60 Prozent diejenigen, die nur für den Schutz von  Risikogruppen waren, damit die Wirtschaft möglichst wenig leidet. Ihr  Anteil ging im Juli etwas zurück, blieb dann aber in den folgenden Monaten  bis in den späten Herbst hinein auf einem hohen Niveau. Noch im Oktober,  als die Zahl der gemeldeten Infektionsfälle erneut rapide anstieg, sprachen sich 64 Prozent für den Schutz allein von Risikogruppen aus. Lediglich 29  Prozent der Befragten befürworteten damals ein umfassendes  Kontaktverbot zum Schutz aller. Am 28. Oktober 2020 reagierten Bund und  Länder auf die exponentielle Infektionsdynamik mit Beschlüssen für einen  zweiten Lockdown. Ein weiteres Mal wurden Kultur-, Gastronomie- und  Freizeiteinrichtungen geschlossen und die Bürgerinnen und Bürger zur Einschränkung persönlicher Kontakte aufgerufen. Die Zahl derjenigen, die  ein umfassendes Kontaktverbot befürworteten, nahm im Winter deutlich  zu. Im Januar sprachen sich 55 Prozent für ein Kontaktverbot zum Schutz  aller aus, auch wenn die Wirtschaft darunter leidet. Das ist der höchste Wert  über die gesamte Zeitreihe hinweg.

Nach der Regierungserklärung Ende Oktober mahnte die Fraktionschefin  von Bündnis 90/Die Grünen, die Verschärfung der Corona-Pandemie sei  eigentlich vorhersehbar gewesen. Das Land sei darauf dennoch nicht vorbereitet. Die Grünen treten nun erstmals mit einer Kanzlerkandidatin  zur Bundestagswahl an. Wie stehen die potenziellen Wähler der Grünen zu  der Frage nach einerseits umfassend wirksamem Schutz durch Kontaktverbote und andererseits der Aufrechterhaltung wirtschaftlicher  Tätigkeit? Welche Strategie befürworten die Anhänger der derzeit  regierenden Parteien SPD und CDU/CSU?

Über den gesamten Erhebungszeitraum neigen Wähler der Grünen  verglichen mit denen der regierenden Parteien, insbesondere CDU/CSU,  stärker zu einer Präferenz für umfassende Kontaktverbote. Eine  Entwicklung hin zu einer steigenden Zahl an Befürwortern von  Kontaktverboten bis zum Januar 2021 lässt sich aber auch für Anhänger von  CDU/CSU beobachten. So deuten die Ergebnisse für das erste Quartal 2021 in  der Tendenz auf eine abnehmende Polarisierung hin. Die Differenz der  Anteile an Befürwortern umfassender Kontaktbeschränkungen zwischen  den Anhängern der drei Parteien fällt zu Beginn dieses Jahres geringer aus  als in den meisten Monaten zuvor. Für die übrigen im Bundestag  vertretenen Parteien unterliegen die Ergebnisse auch aufgrund relativ  geringer Fallzahlen großen Schwankungen und lassen daher keinen Trend erkennen.

Im zeitlichen Verlauf betrachtet zeigen die Befragungsergebnisse, dass die  Bürger während der beiden Hochphasen der Pandemie zu großen Teilen  Kontaktverbote befürworteten, auch wenn die Wirtschaft darunter leidet. In  diesen Zeiten ist überdies keine zunehmende Polarisierung zwischen  den Wählern der drei großen Parteien CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/ Die  Grünen festzustellen. Der „richtige“ Umgang mit der Corona-Pandemie  wird den diesjährigen Wahlkampf aber dennoch sicher mitbestimmen.  Debatten zur Verteilung der raren Impfstoffdosen gegen das Corona-Virus  und um Privilegien für geimpfte Personen sind gegenwärtig bereits in den  Vordergrund gerückt. Hier tun sich neue Zielkonflikte auf, für die um  Lösungen gerungen wird.

Dieser Beitrag ist in aktuellen Lagemaß erschienen (zum Magazin)

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