Wie divers ist Deutschland?

Ermittlung eines bundesweiten Superdiversitäts-Index und das Beispiel Hamburg

Superdiversität – was steckt denn da dahinter? Das Thema „Superdiversität“ wird seit einigen Jahren in der Stadtforschung diskutiert. Ihren Ausgangspunkt hatte diese Diskussion bei der Lebenssituation in internationalen Metropolen wie etwa London. Dort sind durch Zuwanderung und die Arbeitsplatzsituation vielfältig geprägte Stadtquartiere entstanden. Diese Vielfalt wird als kennzeichnend für kulturübergreifende Entwicklungen gesehen. Oft verbindet sich damit eine positive Erwartung, ausgelöst durch die potenzielle wechselseitige Bereicherung der in den Quartieren vorhandenen „Lebensentwürfe“.

Operationalisiert wird dies in der Regel über die Dimensionen „Zuwanderung und Migration“. Hinzu kommen – etwa in den USA – Ansätze, die Vielfalt über die Zugehörigkeit und die Verteilung ethnischer Gruppen in den dortigen Metropolen zu definieren. Entsprechende Ansätze gibt es beispielsweise für Chicago. Darüber hinaus gibt es jedoch kaum Versuche, die Dimension „Superdiversität“ genauer zu beschreiben oder weiterzuentwickeln. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein „superdiverser“ Stadtteil nicht alleine durch eine in ihren Herkunftsnationalitäten heterogene Bewohnerschaft definiert wird, sondern weitere Merkmale von Bedeutung sind.

„Superdiversität“ in Deutschland und am Beispiel Hamburgs

Für Deutschland liegen Auswertungen in systematischer Form weder für ein auf Nationalitäten begrenztes Konzept noch eine weiter gefasste Definition vor. Ausgehend von einer Initiative der Körber-Stiftung und in deren Auftrag hat infas in Zusammenarbeit mit infas 360 als Spezialist für mikrogeografische Daten einen „Superdiversitäts-Index“ erstellt. Er wurde deutschlandweit berechnet. Die Berechnung erfolgte kleinräumig unterhalb der Ebene des Gemeindeaggregats. Damit wird auch eine Betrachtung einzelner Stadtquartiere möglich. Der Index wurde für über 70.000 Ortsteile ermittelt und liegt für die gesamte Bundesrepublik vor. Dabei wurden sowohl amtliche, öffentlich verfügbare Daten wie auch mit dem Know-how von infas 360 entstandene Berechnungen spezieller Merkmale genutzt. Die wesentliche Innovation dieses Vorgehens besteht in der Zusammenführung dieser Daten und ihrer Verdichtung zu einem in dieser Form bisher nicht verfügbaren Index. Es entstand ein Vorschlag zur Messung von „Superdiversität“ und dieser soll nach seiner Vorstellung auf dem Symposium 2017 der Körber-Stiftung hier ebenfalls zur Diskussion gestellt werden.

Entscheidend bei der Konzeption war die Überlegung, die bisher oft eindimensionale Betrachtung der Ebene „Migrationsanteil“ um weitere Kennziffern zu ergänzen, „Superdiversität“ setzt sich aus einer ganzen Reihe von Faktoren zusammen. Ausgehend von der verfügbaren Datenlage wurden zusätzlich zu den Migrantenanteilen in den jeweiligen Ortsteilen weitere Kennwerte einbezogen. Dabei kam es darauf an, dass diese Merkmale kleinräumig und vollständig für die gesamte Bundesrepublik verfügbar sind. Dadurch entstehen inhaltliche Begrenzungen. Aber ein entscheidender Vorteil liegt darin, dass der Index flächendeckend berechnet werden kann. Auf diese Weise wurden fünf zusätzliche Merkmale ausgewählt. Dies sind die Kaufkraftverteilung als Schätzer für die wirtschaftliche Situation der Bewohner in einem Quartier, die Altersverteilung, das Verhältnis der konfessionellen Orientierungen sowie das Parteienspektrum, ausgedrückt an den lokalen Wahlergebnissen bei der Bundestagswahl 2013. Als letztes Kriterium wurde schließlich noch die Erreichbarkeit des nächsten Subzentrums als Zentralitätsmerkmal und Schätzer für eine Versorgungsvielfalt berücksichtigt.

Für alle Merkmale wurde die Heterogenität im jeweiligen Ortsteil ermittelt. Dazu wurden jeweils nach dem Konzept des Gini-Koeffizienten Heterogenitätsmaße berechnet. Sie drücken aus, in welchem Ausmaß ein Merkmal in einer Gebietseinheit möglichst breit gestreut oder nur geklumpt beobachtet werden kann. Der Bezug lag dabei auf sogenannten Siedlungsblöcken innerhalb der Ortsteile. Sie stellten also die kleinste betrachtete Einheit dar und umfassen vereinfacht ausgedrückt jeweils einzelne Häuserblöcke. Nur die Entfernung des Subzentrums wurde als einfacher Distanzwert genutzt. So drückt der Index nach der Zusammenführung aller Dimensionen die „Vielfalt“ bzw. „Superdiversität“ eines Ortsteils aus. Er basiert auf folgenden Eingangsdaten mit daraus abgeleiteten Indexwerten und Gewichtungen innerhalb des Gesamtindex, die auf Basis einer Faktorenanalyse über alle Merkmale und den sich ergebenden Faktorladungen festgelegt wurden:

  • Migrantenanteil (Indexwerte 0 – 234, Gewicht 20,5%),
  • Kaufkraftverteilung als Schätzer für die wirtschaftliche Situation der Bewohner in einem Quartier (Indexwerte 0 – 144, Gewicht 13,0%),
  • Altersverteilung (Indexwerte 0 – 214, Gewicht 18,8%),
  • Verhältnis der konfessionellen Orientierungen (Indexwerte 0 – 251, Gewicht 15,9%),
  • Parteienspektrum, ausgedrückt an den lokalen Wahlergebnissen
    bei der Bundestagswahl 2013 (Indexwerte 0 – 150, Gewicht 16,0%),
  • Erreichbarkeit des nächsten Subzentrums, ausgedrückt
    in der Entfernung (Indexwerte 0 – 179, Gewicht 15,9%).

Mit der Zusammenführung aller Indikatoren entsteht ein Gesamtindex, der erstmals sehr unterschiedliche Dimensionen für Vielfalt berücksichtigt. In der höchsten Ebene können seine Ergebnisse auf Bundeslandebene und nach Regionstypen dargestellt werden. Dabei zeigt sich das plausible Resultat besonders hoher Indexwerte in den Metropolen und geringer Werte in den ländlichen Räumen, vor allem in einigen Regionen Ostdeutschlands. Aufschlussreicher als bei dem Blick auf diese relativ hohen Aggregate werden die Ergebnisse bei einer weiteren regionalen Differenzierung. Die Ergebnisse sind daher online in Form einer interaktiven Karte für ganz Deutschland einsehbar. In der Karte werden die Ergebnisse zunächst nach Gemeinden dargestellt. Bei einem Zoom auf einzelne Gemeinden wechselt die Darstellung automatisch auf die Ortsteilebene. Dabei wird aufgrund der höheren Diversität in den größeren Städten auch automatisch die Kategorienabstufung angepasst. Dies kann jeweils der Legende entnommen werden. Ortsteile mit weniger als 30 Einwohnern werden in der Ortsteildarstellung nicht mit einem Wert dargestellt, da die Datengrundlage zur Berechnung des Superdiversitätsindex in diesen Fällen zu klein ist. Dies betrifft aufgrund der anderen raumstrukturellen Gliederung vor allem Ortsteile in Bayern.
Um das Ergebnis auch hier im Heft anhand einer kleinräumigen Betrachtung zu veranschaulichen, wurde wie schon auf der Veranstaltung der Körber-Stiftung im November 2017 das Beispiel Hamburg gewählt. Dort kann der Index den 104 Hamburger Stadtteilen entsprechend differenziert werden. Für die Stadtteile liegen jeweils ein Gesamtergebnis sowie die Einzelwerte der Indikatoren vor. Für das Stadtgebiet zeigt sich eine Spannweite von „superdiversen“ Stadtteilen bis hin zu Stadtregionen, die im Verhältnis deutlich weniger Vielfalt aufweisen. Mit an der Spitze liegt Wilhelmsburg, geprägt durch einen relativ hohen Migrantenanteil, aber zunehmend auch durch Zuzüge vor allem jüngerer Bewohner ohne einen Migrationshintergrund. Ebenso noch relativ „superdivers“ sind innenstadtnahe Stadtteile. Am anderen Ende der Hamburger „Superdiversitätsskala“ liegen vor allem Regionen im Norden und Südosten der Stadt Hamburg mit relativ großer Entfernung zum Stadtzentrum.
In anderen deutschen Großstädten zeigen sich teilweise ähnliche, teilweise etwas anders gelagerte Ergebnisse. Gemeinsam ist allen Metropolen, dass sie ein deutlich höheres „Superdiversitätsniveau“ aufweisen als die suburbanen oder ländlichen Räume.

Messung als Grundlage – Stadtplanung sollte „Superdiversität“ ermöglichen

Das Ausmaß der Superdiversität vor allem in den Großstädten kann dabei sowohl durch einen hohen Migrantenanteil als auch durch einen oder mehrere der übrigen Faktoren geprägt sein. Superdiversität entsteht nach der gewählten Operationalisierung überall dort, wo möglichst alle Indikatoren auf eine breite Mischung im Stadtteil hindeuten. Homogene Stadtteile mit einer oft geringen Altersspannbreite der Bewohner, sei es in der arrivierten bürgerlichen Form oder ausschließlich als „Problembezirk“ geprägt, werden dagegen nicht als „superdivers“ klassifiziert Inhaltlich zeigen sich vor allem Struktureffekte. In den „diverseren“ Stadtteilen ist der Anteil jüngerer Menschen und im Idealfall auch der der Familien höher als im Durchschnitt. Es gibt ebenso Stadtteile, die auf der Schwelle zur „Superdiversität“ stehen, aber diese Bedingung für einzelne Dimensionen nicht erfüllen. Ein Beispiel hierfür ist der Hamburger Stadtteil Eimsbüttel, wo der Anteil von Jugendlichen – und damit der Familienanteil – unter dem Durchschnitt liegt.
Für die Stadt- und Wohnungsplanung heißt dies, dass auf eine „Vielfalt“ auch bei der Quartiersgestaltung geachtet werden muss. Dazu zählen als wichtige Kriterien die Finanzierbarkeit, aber auch das Spektrum des vorgehaltenen Wohnungsbestands ebenso wie die Gestaltung städtischer Freiräume, um Familien das innerstädtische Wohnen zu ermöglichen. Unser Vorschlag zur Messung von „Superdiversität“ kann dabei helfen, Stärken und Schwächen innerhalb der Städte besser als bisher und mit neuem Blickwinkel zu erkennen. Er stellt eine Anregung zur Nutzung dieser Perspektive und zur weiteren, auch methodisch ausgerichteten Diskussion dar. In der Diskussion mit externen Experten und dem Team der Körber-Stiftung sind dazu Empfehlungen erarbeitet worden, die auf der Veranstaltung vorgestellt wurden.

„Superdiversität“ für alle das Richtige?

In einem weiteren Analyseschritt wurden die Indexwerte aller Ortsteile Deutschlands mit Befragungsergebnissen aus dem infas Lebenslagenindex ilex kombiniert. Hierzu liegen über 5.000 Interviews bundesweit vor. Damit wird es möglich, nicht nur Struktureffekte, sondern auch subjektive Urteile zur Lebenssituation und bestimmte „Einstellungsmilieus“ abhängig von der „Superdiversität“ der Wohnumgebung zu betrachten. Diese Analyse zeigt wie bereits das Hamburger Ergebnis anhand der Strukturdaten, dass vor allem lebensphasenabhängige Zusammenhänge beobachtet werden können. Die gebildeten „Einstellungsmilieus“, aber auch weitere Merkmale – etwa zur Lebenszufriedenheit – hängen dagegen kaum mit der Diversitätseinstufung des Wohnquartiers zusammen. Im Umkehrschluss heißt dies jedoch, dass die subjektiv empfundene Lebenssituation ebenfalls vielfältig ist. Zufrieden lässt es sich also in superdiversen wie auch in homogenen Wohnumgebungen sein. Dahinter mag eine andere Beobachtung stecken: „Superdiversität“ ist nichts für alle und je nach Einstellung und Lebensphase kann auch eine nicht-diverse Lebens- und Wohnumgebung die erste Wahl sein.

 

Zum Weiterlesen
Vertovic, Steven (2012): Superdiversität, Stand 2.8.2017


Zum Gastautor: Jonathan Petzold betreut bei der KörberStiftung gesellschaftliche Themen

Beitragsbild: Mark Hayward